Die fatalen Folgen der Ökonomisierung der Medizin

Fragt man Dr. Google, was Ökonomisierung bedeutet, so wird man verwiesen auf Luc Boltanski und Ève Chiapello und deren Werk mit dem Titel «Le nouvel Ésprit du Capitalisme». Basis des Buches ist die empirische, systematische Auswertung der zeitgenössischen (1999) ­Managementliteratur.

Der Begriff der Ökonomisierung bezeichnet die Ausbreitung des Marktes bzw. seiner Ordnungsprinzipien und Prioritäten auf Bereiche, in denen ökonomische Überlegungen in der Vergangenheit eine eher untergeordnete Rolle spielten bzw. die solidarisch oder privat organisiert waren; «So werden zunehmend immer mehr Güter und Praktiken, die einst ­ausserhalb der Marktsphäre lokalisiert waren, in ‹Produkte› umgewandelt, die über einen Preis auf einem ‹Markt› ge­handelt werden können» [1].

Schon Maximilian Carl Emil Weber beschrieb als Soziologe und Nationalökonom in Deutschland 1904 resp. 1905 in seinem Werk «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus»[2] das Spannungsfeld zwischen Rationalität und Irrationalität im Kapitalismus.

Heinrich Böll vermochte es 1963 in der «Anekdote zur Senkung der Arbeits­moral»[3] auf den Punkt zu bringen, was es mit der Irrationalität auf sich hat.

Zurück zur Medizin.
Ich möchte klarstellen, dass es nicht darum geht, ökonomisches Gedankengut zu verteufeln oder die Notwendigkeit zu leugnen, verantwortungsvoll mit Ressourcen umzugehen. Ich möchte aber aufzeigen, dass ökonomische Überlegungen in der Medizin nicht die Anwendung finden können wie in einer freien Marktwirtschaft.

Die Grundvoraussetzung für funktionierendes marktwirtschaftliches Handeln in der Medizin ist die Postulierung, dass der Patient ein Kunde ist. Diese Prämisse ist aber grundsätzlich nicht erfüllt, aus ­vielen Gründen. Einer davon: Der Patient ist primär ein Mensch, welcher auf Hilfe angewiesen ist, und nicht ein konsumierendes Subjekt. Genauso wenig kann die Medizin ein Produkt liefern. Als medizinischen Fachmann ist es mir schlicht unklar, wie ich Gesundheit produzieren soll.

Vielleicht etwas für die Zukunft in der Medizin?
Auf nationaler Ebene will man das Globalbudget einführen. Dies wird fatal für die Behandlungsqualität und gefährlich für die Genesung der Patienten, wie man an verschiedenen Beispielen aus Deutschland sehen kann. Das neue deutsche Parlament hat sich 2022 zum Ziel ­gesetzt, das Globalbudget abzuschaffen, nachdem dieses Konzept wegen fehlender Kostenersparnisse und einer haus­gemachten Versorgungsmisere grandios gescheitert ist. Das Schweizer Parlament ist anderseits gerade dabei, 2022 das ­Globalbudget einzuführen.

Im Tarifstreit lässt man ausser Acht, dass die seit Jahrzehnten geltenden Ver­gütungen nicht einmal mehr an die Inflation angepasst wurden, was einer ­versteckten Lohnreduktion bei den ambulant tätigen Ärzten gleichkommt, wohlgemerkt im zweistelligen Bereich. Regional werden Vergütungsmodelle der Ärzte angepasst. Es gibt neu Lohnbänder. Die Privathonorare dürfen z. T. nicht mehr von der Ärzteschaft verwaltet werden, also von jenen, die sie generieren. Das führt dann zu Situationen, in welchen ein Oberarzt weniger verdient als ein Assistenzarzt. Leider haben alle Berechnungen dieser Art nur ein Ziel, nämlich eine Kostenreduktion. Dass man sich dabei über geltende Gesamtarbeitsverträge hinwegsetzt und es mit der Ein­haltung des Arbeitsgesetzes auch nicht genau nimmt, scheint niemanden zu ­stören. Hauptsache, das System bringt mehr Rendite!

Verrechnet hat man sich in einigen Häusern wohl auch mit der Übernahme der Verwaltung der ärztlichen Privathonorare. Einigen Verantwortlichen ist wohl entgangen, dass die ärztliche Weiter­bildung aus Pools bezahlt wurde, welche eben durch diese Privathonorare gespiesen wurden. Nun ist kein Geld mehr da für die ärztliche Weiterbildung. Sicher eine gute Voraussetzung für eine qualitativ hochstehende Behandlungskette.

Fehlendes Personal
Obwohl sich der Arbeitsaufwand verdichtet, immer mehr Patienten behandelt werden müssen und sich dabei die stationären Liegezeiten verkürzen, werden Assistenzarztstellen gestrichen. Die Administration am Abend ist verboten, denn diese zählt nicht als Arbeitszeit. Also: weg mit diesen Überstunden! Praktisch, nicht? Oberärzte müssen neu Vordergrunddienst leisten, um die fehlenden Assistenzärzte zu kompensieren. Deren ärztliche Ethik wird es schon richten.

So kommt man auf der Notfallstation an, um seine überlasteten jüngeren Kollegen zu unterstützen, obwohl man an dem Tag gar keinen Dienst hat und man merkt, dass nicht nur der Assistenzarzt fehlt, sondern auch eine Pflegende. Also sucht man als spezialisierter Arzt Kompressen zusammen, richtet das Abstrichröhrchen etc., füllt den leeren Schrank nach, indem man das Gebäude wechselt und im eigenen Ambulatorium Zeit verliert, bis die zuständige Person Valenzen hat, um einem zu sagen, aus welcher Reserve man sich bedienen kann und wie das Material, natürlich das wichtigste, intern abgerechnet werden kann.

Wieder zurück auf dem Notfall, krümmt sich der Patient mittlerweile vor Schmerzen. Der Venflon ist parat, niemand hatte Zeit, ihn zeitgerecht zu wechseln. Das I.v.-Morphium ist schon längst verschrieben, aber passiert ist nichts – Personalmangel!

Doch zum Glück begleitet mich mittlerweile die Medizinstudentin, welche eine Ausbildung als Pflegerin hat. So bitte ich Sie, eine neue Leitung zu legen, während ich die Schmerztherapie invasiv mit einer Leitungsanästhesie übernehme. Zum Glück war der Schrank im anderen Gebäude aufgefüllt …

Der oben beschriebene Fall ist natürlich frei erfunden, entspricht aber leider zunehmend den Erfahrungen der Ärztinnen und Ärzte in den Spitälern und eben auch meiner persönlichen.

Der Fall beschreibt die Irrationalität in unserem System und belegt, wieso wir Ärzte uns mit der Ökonomisierung zwingend und eingehend beschäftigen müssen. Denn nur wir haben den realen Überblick und die Verantwortung gegenüber dem Patienten.

Für den einzelnen Ökonomen macht es Sinn,

• Assistenzarztstellen zu streichen, denn er sieht die gestrichenen Überstunden nicht.

• eine Pflegefachstelle zu streichen, denn er sieht den Oberarzt nicht, welcher jetzt den Job für beide macht.

• die Oberarztstelle zu streichen, denn er sieht nicht, dass der Oberarzt nun als Ersatz für den Assistenzarzt dient und die Pflege ersetzt. Natürlich ist der Oberarzt zu teuer dafür, verantwortet wird diese Kostensteigerung aber ­letztlich von Ökonomen, die vom Arbeitsalltag an der Front im Spital keine Ahnung haben.

Und wer kümmert sich jetzt um den Patienten? Der Ökonom oder die Rendite?
Der Patient muss wieder in den Mittelpunkt gestellt werden! Ideolo­gisches Denken, sei es nun eine planwirtschaftliche Staatsmedizin (wie sie Herrn Berset und Herrn Maillard vorschwebt) oder ein entfesselter Neoliberalismus (wie in gewissen multinationalen Gesundheitskonzernen präferiert, wo der Mensch zum Organersatzteillager werden kann) zerstören die Medizin. Sie zerstören auch unser Gesundheitswesen, das aktuell (gemäss OECD Health Consumer Index) patientenfreundlichste in Europa.

Das Gesundheitswesen gehört wieder in die Hände der Medizinal- und Gesundheitsberufe. Ihr Berufsethos garantiert, dass die Patientinnen und Patienten am wenigsten Schaden nehmen. Ideologen stellen Ideen über das Wohl der Menschen und degradieren sie so zur Ware.

Literatur

1. Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK, Konstanz 2003, ISBN 3-89669-991-1.
2. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904–1905. (20. Bd., Heft 1, S. 1–54; 21. Bd., Heft 1, S. 1–110), ArchSozWiss
3. Heinrich Böll, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral. In: Robert C. Conrad (Hg.): Heinrich Böll. Kölner Ausgabe. Bd. 12. 1959–1963, Köln 2008

Dr. med. und Dr. med. dent Miodrag Savic

Präsident der VSAO-Sektion Basel