«Ambulant vor stationär» in der Psychiatrie: Reform der kleinen Schritte

Was bisher geschah
Seit Mitte der 1970er Jahre wurden in verschiedenen europäischen und nordamerikanischen Ländern Reformprozesse für die psychiatrische Versorgung angestossen, die bis heute andauern. Für die Schweiz waren und sind dabei die Entwicklungen in Deutschland (seit der 1975 veröffentlichten «Psychiatrie-­Enquête») und die deutlich radikaleren Reformen in Italien (mit der 1978 in Kraft getretenen «Legge centottanta») prägend. Während Letztere infolge des Wirkens von Psychiater und Neurologe Franco Basaglia die weitgehende Schlies­sung der grossen psychiatrischen Anstalten vorschrieb, um die psychiatrische Versorgung gänzlich in den ambulanten Bereich zu verschieben, kann aus den Empfehlungen des Berichts zur Psychia­trie-Enquête unter anderem das bis heute gültige Paradigma «ambulant vor stationär» abgeleitet werden. Ab den 1980er bis Anfang der 2000er Jahre kam es in allen westeuropäischen Ländern im Zuge der Dehospitalisierungsbewegung zu ­einem drastischen Abbau psychiatrischer Klinikbetten und zum Aufbau ambulanter und tagesklinischer Behandlungskapazitäten. Zudem entstand ein differenziertes Angebot psychosozialer Angebote zum Wohnen und Arbeiten im geschützten bzw. betreuten Rahmen sowie zur Tagesstrukturierung und sozialen Integration. Kritiken an dieser Entwicklung beziehen sich bis heute auf den ungenügenden Aufbau tragfähiger Angebote für schwer und langfristig psychisch beeinträchtigte Menschen, was zu häufigeren Klinikeintritten führen kann sowie, darauf, dass die betroffenen Menschen innerhalb der geschützten Settings weiterhin unter sich und in Kontakt mit Fachpersonen sind und nicht, wie ­beabsichtigt, im Sinne der Inklusion ein gleichberechtigtes Leben in der ­Gesellschaft erlangen können.

Was derzeit geschieht
Die Reform der Psychiatrie kann vor diesem Hintergrund weiterhin nicht als ­abgeschlossen betrachtet werden. So ­orientieren sich die Versorgungsplanungen für die Psychiatrie weiterhin an den etablierten Paradigmen:

• Ambulante Angebote sind intermediären (z.B. multiprofessionelle Gemeindepsychiatrieteams, Behandlung zu Hause, Tageskliniken) und diese wiederum stationären Angeboten wenn immer möglich vorzuziehen.

• Die Angebote sollen die Autonomie von Patientinnen und Patienten erhalten und stärken, Zwangsmassnahmen vermeiden und sich an deren individuellen Bedürfnissen, dem Lebensumfeld und fachlich objektivierbarem Bedarf orientieren.

• Die Behandlungsangebote sollen integriert organisiert werden. Das bedeutet, dass eine personelle oder mindestens Informationskontinuität über den gesamten Behandlungs- und Betreuungsprozess einer Patientin über alle Behandlungssettings hinweg, inklusive Prävention, Gesundheitsförderung und Schnittstellen zu ausserklinischen Bereichen, sichergestellt ist und im besten Fall von einer Person oder ­Institution koordiniert wird.

Neue Behandlungsangebote und Modellprojekte sind derzeit daher mehrheitlich im ausserstationären Bereich zu finden. Insbesondere Angebote wie Home Treatment für Krisenintervention und Akutbehandlung zu Hause, Konsiliar- und ­Liaisondienste für somatische Spitäler, Wohnheime sowie Alters- und Pflegeeinrichtungen und Tageskliniken können den genannten Anforderungen gerecht werden und die psychiatrische Versorgung im Sinne der Reformanliegen weiterentwickeln. Die Etablierung dieser komplexen Angebote, die über ambulante Behandlungen in Praxen hinausgehen, wird jedoch erschwert durch die bestehenden Finanzierungssysteme, die den erforderlichen Aufwand zu wenig abbilden. Es sind daher in der Regel ­Modellfinanzierungen oder Subventionierungen notwendig, die jeweils individuell erarbeitet und von gesundheits­politischer Seite unterstützt werden müssen.

Angesichts des wirtschaftlichen Drucks auf das Gesundheitswesen im Allgemeinen werden in diesem Zusammenhang meist Einsparungen an anderer Stelle – in der Regel im stationären Bereich – ­gefordert, was den Druck auf das Gesamtversorgungssystem unverändert hochhält, wenn nicht gar vergrössert. Hinzu kommt eine seit Jahren zunehmende ­Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlung, die in den letzten zwei Jahren während der Pandemie nochmals eklatant angestiegen ist. Dies ist zumindest bei Erwachsenen weniger in einer faktischen Zunahme von psychischen Erkrankungen begründet als in ­einer erhöhten Bereitschaft, Hilfsan­gebote bei psychischer Belastung auf­zusuchen, was auch als Folge einer ­erwünschten Abnahme der Stigmatisierung psychischer Störungen gewertet werden kann.

Neben der Erweiterung ambulanter und intermediärer Behandlungskapazitäten ist zusätzlich eine verbesserte Steuerung der passgenauen Zuteilung der vorhandenen Behandlungskapazitäten erforderlich. Obwohl auf der einen Seite eine Unterversorgung mit langen Wartezeiten und Abweisungen behandlungsbedürftiger Personen festgestellt werden kann, ist andererseits von einer Überversorgung an anderer Stelle auszugehen, in der Summe ist also teilweise eine Fehlversorgung festzustellen. Diese zeigt sich in zu langer, zu intensiver oder unpassender Versorgung, etwa wenn nur leicht Erkrankte oder weitgehend Genesene weiterhin ambulante Behandlungs­kapazitäten zur Aufrechterhaltung und ­Stabilisierung nutzen oder aufgrund zu langer Wartezeiten oder wenn aufgrund von Mangel an ­Alternativen krisenhafte Zuspitzungen entstehen und vermeidbare stationäre Behandlungen notwendig werden.

Was zukünftig geschehen sollte
Aus Sicht der betroffenen Menschen mit psychischen Erkrankungen sollte die Behandlung niederschwellig und zeitnah zugänglich sein und nur so lange und so intensiv wie nötig erfolgen. Die derzeitige Finanzierung setzt jedoch Anreize, die vorhandenen Kapazitäten so gut wie möglich auszulasten, und verhindert damit, dass stets ausreichende Ressourcen vorgehalten werden, um jene mit dringendem Behandlungsbedarf kurzfristig aufnehmen zu können. Aufgrund des ­generellen Drucks im Versorgungssystem besteht zudem ein Anreiz, leichter erkrankte Personen mit weniger intensivem bzw. komplexen Behandlungsbedarf länger als nötig zu behalten, um die ­Arbeitsbelastung stabil zu halten oder zumindest nicht noch weiter zu erhöhen. Um dem Bedarf besser gerecht werden zu können, wären neben ausreichenden Gesamtkapazitäten auch geeignete Steuerelemente notwendig, um alle ambulant Tätigen in gleicher Weise in die Grundversorgung einzubeziehen. Hierzu sollten die Indikation und der Basisanspruch für psychisch belastete Hilfesuchende definiert und die Angebote für darüber hinausgehenden Bedarf ins ­Gesamtversorgungsnetzwerk eingebunden werden. Die heutige Organisation der psychischen Gesundheitsversorgung überlässt die Steuerung jedoch weitestgehend den Patientinnen und Patienten, die entsprechend ihren Bedürfnissen und Erwartungen entscheiden, sowie den Fachpersonen, die oftmals primär entsprechend ihren fachlichen Interessen und Spezialisierungen und im ­Rahmen der genannten systemischen ­Anreize handeln. Die Folge sind Doppelspurigkeiten, Informationsverluste und ungünstige klinische Verläufe, die das System noch zusätzlich belasten. Zur Verbesserung des Gesamtversorgungsnetzwerks ist daher eine verbesserte Koordination und Integration der bestehenden Angebote nötig, mit dem Ziel, Beziehungs- und Informationskontinuität von Beginn bis zum Abschluss der Behandlung herzustellen. Zudem sollten die ­Angebote weiter mobilisiert und flexibilisiert werden, um die Behandlung und Unterstützung, wenn nötig, dort anbieten zu können, wo die Problematik entsteht und wirksam ist, d.h. im direkten sozialen Umfeld der betroffenen Personen.

Diese Gesamtorganisation sollte primär vom Bedarf der am schwersten und ggf. andauernd beeinträchtigten Betroffenen gedacht werden, so dass diese ­Menschen sicher eine angemessene und kontinuierliche Behandlung erhalten können. Bei einer Unterversorgung dieser Personen, die ohnehin ressourcenintensive Behandlungen und Betreuung benötigen, wird das Versorgungssystem sonst eher noch mehr und dann unkoordiniert belastet. Die ambulante Behandlung und Koordination des Gesamt­netzwerks im Sinne der integrierten Versorgung ist dabei das Rückgrat und die Basis für einen günstigen Verlauf für die betroffenen Personen und deren Umfeld, während stationäre Behandlungen nur ­einen zeitlich begrenzten, wenngleich wichtigen Beitrag leisten können.

Es ist auch in der näheren Zukunft mit ­einer weiterhin steigenden Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlungen zu rechnen. Der Ruf nach stetiger Erhöhung der Behandlungskapazitäten wird jedoch nur teilweise zu einer Bewältigung des steigenden Bedarfs beitragen können, alleine schon aufgrund der begrenzten Ressourcen durch den in vielen Regionen markanten Fachkräftemangel. Eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Gesundheitsversorgungssystems ist daher grundlegend, um auch weiterhin ein attraktives Arbeitsfeld für qualifizierte psychiatrische Fachpersonen schaffen zu können. Eine Fokussierung auf den ambulanten Bereich sowie die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen zur Weiterentwicklung bedarfsgerechter Angebote ist der erforderliche anstehende Schritt.

PD Dr. med. Matthias Jäger

PD Dr. med. Matthias Jäger ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ­arbeitet als Direktor Erwachsenenpsychiatrie und Chefarzt der Privatklinik in der Psychiatrie Baselland. Er ist seit 2016 an der Universität Zürich habilitiert und dort sowie an der Universität Basel als Dozent im Studiengang Humanmedizin tätig.