«Der Patient im Mittelpunkt» am Beispiel der ­Ambulantisierung der Patientenversorgung

Medizinethische Aspekte eines gesundheitspolitischen Konzepts
Das gesundheitspolitische Konzept der Ambulantisierung von Versorgungsleistungen in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) stellt im Kern eine durch vergütungsrechtliche Vorgaben bewirkte systematische Verschiebung vormals klinisch-stationärer Behandlungsleistungen hin zu ambulanten Versorgungs- und Abrechnungsformen dar. Die Einschränkung der Kostenübernahme bei bestimmten elektiven Eingriffen [1] soll bewirken, dass geeignete ­Patientinnen und Patienten nicht mehr stationär, sondern stattdessen ambulant versorgt werden. Als Konsequenz werden Einsparungen vor allem bei den Kantonen, welche bis zu 55% der stationären Leistungen mitfinanzieren, in Höhe von mindestens 90 Millionen Franken erwartet, nicht hingegen Auswirkungen auf die Versicherungsprämien [2].

Die ökonomische Logik dieses Anreizsystems überzeugt: Aus der produktionswirtschaftlichen Perspektive heraus erscheint es rational und effizient, alle diejenigen Teilleistungen bei der Behandlung eines erkrankten Menschen wegzulassen, welche aus begründeter ärztlicher und pflegerischer Sicht für seine Dia­gnostik, Therapie und Gesundung nicht unbedingt als notwendig erscheinen.

Auch aus medizinethischer Sicht scheint dieser Ansatz prima vista angemessen, denn Überversorgung ist nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten. Zudem geht ein stationärer Aufenthalt mit dem Risiko nosokomialer Infektionen einher und kann, gerade im Falle älterer, fragiler Menschen, zur Disruption von Alltagsroutinen und psychischer Belastung führen. Dem steht allerdings ein erhöhter häuslicher Pflegeaufwand im Falle einer ambulanten Behandlung gegenüber sowie die Frage eines geeigneten Monitorings möglicher Komplikationen. Sind die Voraussetzungen hinsichtlich professioneller Pflege und Unterstützung nicht gegeben, kann dies zu einer Überforderung der Patienten und ihrer Familien führen.

Im Zuge der Digitalisierung ist u.a. angesichts der Möglichkeit von Telemonitoring und Telekonsultationen eine weitere Verschiebung in den ambulanten Sektor zu erwarten. So lohnt sich ein vertiefter Blick auf die Frage, ob das Patientenwohl durch eine Ausgliederung medizinisch-pflegerischer Versorgungsleistungen aus der stationären Versorgung gefördert oder eingeschränkt wird.

Patientenwohl als ausserökonomisches Kriterium
Es muss davon ausgegangen werden, dass nach gegenwärtigem medizinisch-wissenschaftlichem Wissensstand die im KLV-Anhang 1a, Kostenübernahme (BAG), aufgeführten, grundsätzlich ambulant durchzuführenden elektiven Eingriffe ohne ein unzumutbares Risiko für die ­Patientinnen und Patienten erbracht werden können. Individuelle Patienten­risiken wie zu junges ­Lebensalter, einschränkende Co-Morbiditäten, aber auch kulturelle, sozioökonomische und patientenlogistische Faktoren werden als Kriterien zugunsten einer stationären Durchführung der Behandlung anerkannt.

Hier trifft Verordnungsvorgabe auf Versorgungsrealität. Ärztinnen und Ärzte müssen nun auf Basis möglichst präziser Anamnesen, durch das Studium der vorliegenden Patientenunterlagen und aufgrund eventuell zusätzlich notwendiger Diagnostik beurteilen können, ob der individuelle Patient bzw. die Patientin ein Risikoprofil aufweist, welches eine ambulante, insbesondere operative Versorgung als medizinisch vertretbar erscheinen lässt.

Diese Risikoeinschätzung des Patientenzustands vor der ambulanten Intervention kann beispielsweise durch alters­bedingte geriatrische Gesundheits­einschränkungen (welche derzeit in der BAG-Kriterienliste nicht aufgeführt sind), Multimorbidität und eine ungeeignete persönliche Lebenssituation geprägt sein. Somatische, nicht-somatische und soziale Faktoren sollen vor Behandlungsbeginn zu einem belastbaren Gesamtbild zusammengefügt werden. Ob für die Ärzteschaft stets eine ausreichende Gesprächszeit mit den Patientinnen und Patienten in den festgelegten Entgeltziffern eingepreist ist, bleibt ungeklärt.

Es ist zu vermuten, dass angesichts dieses zeitaufwendigen Risiko-Assessments eher eine risikoaverse Kategorisierung vorgenommen wird und damit der Kreis potenziell geeigneter Patienten erheblich limitiert ist. Für ambulante Operationen braucht es also, salopp formuliert, gesunde Patientinnen und Patienten. Im Zweifel also besser der bewährte stationäre Aufenthalt im Spital. In dubio pro bene esse patientis.

Niemand hat gefragt?
Aus medizinethischer Sicht sollte das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten bei der Patientenversorgung stets im Vordergrund stehen. Es ist bemerkenswert, dass die Patientenperspektive in den Verordnungstexten nur indirekt thematisiert wird [3].

Es bleibt offen, ob die für ambulante Versorgungen infrage kommenden Patienten eine ambulante Behandlung überhaupt wollen oder aus welchen Gründen, Befürchtungen und Ängsten sie diese Versorgungsformen kritisch sehen und vielleicht ablehnen. Umgekehrt ist auch denkbar, dass Patientinnen und Patienten trotz erhöhten Risikos eine ambulante ­Behandlung vorziehen würden. Das Autonomie-Prinzip als eines der wichtigsten Prinzipien der Medizinethik beinhaltet die Anforderung, individuelle Präferenzen der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Ob dieser Forderung im gegenwärtigen Ambulantisierungskonzept Genüge getan wird, ist nicht erkennbar.

Die Berücksichtigung von Patientenpräferenzen, und damit das Anstreben des Patientenwohls, könnte auf soliden Grundlagen erfolgen. Die Versorgungsforschung verfügt u.a. mit etablierten Konzepten zur Behandlungserfolgs-Messung auf Basis von Patienteninformationen (PROM, Patient-Reported Outcome Measurement) oder durch Erhebung und Auswertung der Behandlungserfahrungen von Patienten (PREM, Patient-Reported Experience Measurement) über gute Möglichkeiten [4]. In der Schweiz wird mit der Datenbank individueller Patientenerfahrungen (DIPEx) aktuell eine weitere Ressource erschlossen.

Die Perspektive der Patientinnen und ­Patienten wurde in den Verordnungstexten zur Ambulantisierung kaum berücksichtigt. Die in der Verordnung genannten Kriterien zugunsten einer stationären Behandlungsdurchführung deuten aber darauf hin, dass dem Verordnungsgeber bewusst ist, dass es zwar standardisierte Abrechnungsregeln geben kann, aber keine standardisierten Patienten.

Respice finem
Es ist der funktionale Kern eines erfolgreichen Gesundheitssystems, erkrankten Menschen die für sie am besten geeignete Behandlung anzubieten. Vor diesem Hintergrund ist es aus versorgungsethischer Sicht für den Verordnungsgeber ­unverzichtbar, möglichst alle Einschränkungen, Bewirtschaftungs- und Umgehungsstrategien zu antizipieren. Es gäbe genug Ansatzpunkte, die das Patientenwohl beeinflussenden Lücken zwischen einem gesundheitsökonomisch getriggerten Ambulantisierungskonzept und dem Patientenerleben im Versorgungsalltag zu schliessen.

Alle Akteure haben das gemeinsame Interesse, dass eine hochqualifizierte ambulante Versorgung von Patientinnen und Patienten nicht als schmerzhafte und ängstliche customer journey mit Nach­blutungen auf der Wohnzimmercouch endet. Deshalb ist es Zeit, aus einer transdisziplinären Perspektive heraus wissenschaftlich fundiert eine normative ­Evaluation der Auswirkungen der Ambulantisierung für die Patienten anzugehen. Die Patientenpräferenzen sollten stets berücksichtigt werden und sollten in die am Patientwohl orientierte Weiterentwicklung des Gesamtkonzepts Ambulantisierung verstärkt Eingang finden.

Literatur
1 Gemäss Krankenpflege-Leistungsverordnung ­Art 3c in Verbindung mit BAG KLV Anhang 1a (Kostenübernahme).
2 Vgl. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/versicherungen/krankenversicherung/krankenversicherung-leistungen-tarife/Aerztliche-Leistungen-in-der-Krankenversicherung/ambulant-vor-stationaer.html
3 Vgl. z.B. KLV Anhang 1a: Weitere Faktoren.
4 Vgl. www.dipex.ch

Medicine & Economics Ethics Lab
Das Medicine & Economics Ethics Lab wurde 2020 am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich gegründet. Als interdisziplinäre Plattform bietet es Raum für kritisch-konstruktive Reflexionen über die Zusammenhänge zwischen Patientenversorgung und wirtschaftlichem Denken bzw. Handeln in modernen Gesundheitssystemen. Weitere Infos: https://www.ibme.uzh.ch/de/Biomedizinische-Ethik/Beratung/M-E-Ethics-Lab.html

Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno

Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno, MHBA, leitet das Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich und engagiert sich seit vielen Jahren im Sinne einer patientenzentrierten Versorgung. Mit ihrem Team vom Departement Gesundheit der ZHAW hat sie die neue Datenbank DIPEx.ch aufgegleist.

Dr. Thomas Kapitza

Dr. sc. med. Thomas Kapitza leitet das Medicine & Economics Ethics Lab. Als Medizinethiker (Universität Zürich), Diplom-Kaufmann (Universität München) und Sachverständiger ist er im Gesundheitssektor beruflich aktiv.