Die Patienten in den Mittelpunkt stellen – reicht das in der Pädiatrie?

In der Gesundheitsversorgung und Forschung gibt es eine Vielzahl von Definitionen, die Patientenzentrierung beschreiben. Sie stimmen vor allem darin überein, dass es sich um die Veränderung von einem traditionellen, paternalistischen und krankheitsorientierten Versorgungsansatz hin zu einem Ansatz handelt, bei welchem die individuellen Präferenzen, Bedürfnisse und Werte der Patientinnen und Patienten in jeder Phase der medizinischen Konsultation, Behandlung und Nachsorge berücksichtigt werden [1].

Wenn in der Pädiatrie von patientenzentrierter Pflege gesprochen wird, fehlt ein wesentlicher Teil, der bei den Kindern nicht wegzudenken ist, nämlich die ­Familie. Deshalb sprechen wir in pädia­trischen Fachkreisen explizit von familienzentrierter Pflege und Betreuung. Die Familie in den Mittelpunkt zu stellen ­bedeutet, dass wir das Umfeld der Patientinnen und Patienten bei Gesprächen und Entscheiden immer mit einbeziehen. Also stützen wir uns bei der Ausübung von evidenzbasierter Pflege sowohl auf Forschungsergebnisse und reflektierte Erfahrung als auch ganz gezielt auf die Präferenzen der Patienten und Familien. Jede Familie ist einzigartig, und ihre ­Lebensumstände verändern sich in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand und dem Ausmass von Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der Kinder. Wie bei einem Mobile bringt die Bewegung eines einzelnen Teilchens das ganze System in Schwingung. Diese Erkenntnis macht den Ansatz der familienzentrierten Pflege [2] in der Pädiatrie so spannend. Der Fokus auf die ganze Familie schlägt sich in allen Betreuungskonzepten in der Pädiatrie nieder, so etwa, wenn es ­darum geht, mit nichtmedikamentösen Interventionen Schmerz und Angst vorzubeugen, oder wenn die Austrittsplanung in komplexen pflegerischen Situationen betroffen ist.

Die Familie eines frühgeborenen Kindes hat ganz andere Bedürfnisse als die ­Familie eines Teenagers. Brauchen die ­einen Eltern Anleitung und Edukation, um die Pflege ihres Kindes zu erlernen, müssen die anderen dem jugendlichen Patienten mehr Selbständigkeit zugestehen. Beides sind Situationen, in denen Pflegefachpersonen respektvoll kommunizieren und den Patienten und der ­Familie angepasste Informationen zukommen lassen müssen. Um die Bedürfnisse eines frühgeborenen Kindes zu ­erkennen, braucht es andere Fähigkeiten, als wenn es darum geht, das Selbstmanagement von Teenagern auf dem Weg in die Erwachsenenmedizin zu begleiten. So liegt der Fokus bei Frühgeborenen auf der Entwicklungsförderung durch die Pflege und auf der Edukation der Eltern in diesem Bereich [3]. Bei Jugendlichen hingegen liegt der Schwerpunkt in der Begleitung von Jugendlichen und ihren Eltern im Ablösungsprozess auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Dazu nutzen wir ein sogenanntes Transitionskonzept, in welchem die Schritte im Übergangsprozess systematisch besprochen und dokumentiert werden können [4].

Anforderungen an Betriebswirtschaftlichkeit
Auch in der Pädiatrie sind die Anforderungen an Betriebswirtschaftlichkeit hoch, und der Anspruch an eine vollständige Dokumentation aller Pflegeleistungen steigt. Wahrscheinlich könnten wir die direkte Pflege am Bett ohne die Hilfe der Familienangehörigen heute nicht mehr bewältigen. Umso mehr brauchen wir ein Klinikinformationssystem, in dem alle Pflegetätigkeiten direkt mit dem Abrechnungssystem verlinkt sind. Andererseits soll die von den Eltern geleistete Arbeit auch berücksichtigt werden. Dies ist nicht nur aus ökonomischer Perspektive relevant, sondern auch aus zwischenmenschlicher. Eltern und Patienten mit viel Spitalerfahrung berichten häufig, dass sie in den Gesprächen mit Ärztinnen, Ärzten und Pflegefachpersonen viel Ehrlichkeit und Transparenz erleben, aber für ihre Mithilfe in der Pflege und ihr Mitdenken rund um die Organisation von Behandlungen mehr Anerkennung erhalten möchten. In diesem ­Bereich kann die Qualität der familienzentrierten Pflege noch gesteigert werden, und die neue Technologie unterstützt uns dabei. Die Formulierungen sind so weit standardisiert, dass jede Pflegefachperson nachvollziehen kann, wie Kolleginnen und Kollegen beispielsweise einen Patienten und dessen Familie während der eigenen Arbeitsschicht erlebt und eingeschätzt haben. Dies braucht noch Übung, wird aber den Einbezug der Eltern in der Pädiatrie voranbringen. Die standardisierte elektronische Dokumentation von Informationen aus Familienassessments, Verlaufsgesprächen und der Austrittsplanung ist zu Beginn eine Herausforderung und beansprucht in der Umstellungsphase Zeit, die vom direkten Patienten- und Fami­lienkontakt abgeht. Sobald die neuen Technologien im Arbeitsalltag verankert sind, professionalisieren sie jedoch die Kommunikation mit Patientinnen, Patienten und Eltern und erleichtern sowohl die Dokumentation als auch die Sichtbarmachung und Abrechnung der erbrachten Pflegeleistungen.

Literatur

1 Wolfe A., (2001) Institute of Medicine Report: ­Crossing the Quality Chasm: A New Health Care System for the 21st Century, https://doi.org/­10.1177/­152715440100200312
2 Wright L.M., Leahey M., Shajani Z., Snell D. (2021) Familienzentrierte Pflege: Lehrbuch für Familien-Assessment und Interventionen. Hogrefe, Bern.
3 Martinet-Sutter M. et al. (2017) Der Nutzen der Entwicklungsfördernden Pflege für Frühgeborene. Schweizerische Ärztezeitung. 2017;98(50):1672–3.
4 Betz C.L. et al., (2022) The extent self-management for youth and young adults with special health care needs is addressed in health care transition planning literature: a scoping review protocol. VBI evidence Synthesis, DOI: 10.11124/JBIES-20-00265

Christine Becher

(MScN) ist Leiterin Pflegeentwicklung UKBB.

Caroline Stade

Leiterin Pflegedienst und Mitglied der UKBB-Geschäftsleitung.