«Die Not vieler Kinder und Jugendlicher spüren wir bis heute unvermindert»

Mir ging es wie wohl vielen Menschen in der Region. Die Pandemie nahm für mich erst eine reale und unvermeidbare Gestalt an, als die Basler Regierung im Frühjahr 2020 kurzfristig die Fasnacht absagte. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie ich der Pressekonferenz gebannt zuhörte. Der Moment hatte etwas Surreales, noch kaum Fassbares. In den folgenden ­Tagen holte mich die Wirklichkeit allerdings rasch ein. Ich war in der Klinik pausenlos mit dem neuen Virus und seinen erwarteten oder vermuteten Auswirkungen beschäftigt: Informa­tionsbeschaffung und -weitergabe, Pandemiestabsitzungen, Teambe­sprechungen, Konzeptentwicklungen, Schaffung eines Isolationsbereichs auf den Stationen – mein Arbeitsalltag veränderte sich schlagartig. ­Welche Auswirkungen die Pandemie auf die jüngste Generation und somit auch auf die Kinder- und ­Jugendpsychiatrie haben würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Früh verdichtete sich nur die Hoffnung, dass das Virus Kinder viel weniger heftig traf als ältere Menschen.
Ein zweites Schlüsselerlebnis für mich war eine Kinderzeichnung (Abbildung – siehe unten). Julie, ein 8-jähriges, gesundes Mädchen begleitete seinen 5-jährigen Bruder in die Therapiestunde und brachte ein selbst ge­maltes Traumbild, wie sie es nannte, mit. Julie liegt im linken Bett. Ihr Traum ist leicht zu er­kennen: Sie und ihr ­kleiner Bruder flüchten in Angst vor einem giftgrünen Corona-Virus. Im rechten Bett schlafe ihr Bruder, ­erklärte Julie. Sein Traum – in ­ihrem Empfinden – hat einen ganz anderen Inhalt: ­Julie beschützt ihren ­Bruder vor drei Viren! Wie oft in der Kinder­psychiatrie gibt uns ein Bild mehr Einblick in das Innenleben unserer Patientinnen und Patienten als viele Worte. ­Bereits dieses 8-jährige Kind ­findet sich in einer schwierigen Doppelrolle: Es ist Halt suchend in seinen eigenen Gefühlen und gleichzeitig halt­gebend für sein jüngeres Geschwister.
In den folgenden Monaten erinnerte ich mich oft an Julies Zeichnung, wenn wir mit den immer zahl­reicheren überforderten Systemen konfrontiert ­wurden. Homeoffice, enge Wohnverhältnisse, Sorgen um die Grosseltern, Einschränkungen in Schulbetrieb und Kitas verunsicherten Eltern und Lehrpersonen. Gelang es ihnen nicht, ein neues Gleichgewicht zu finden, reagierten viele Kinder mit Symptomen auf die Unruhe in ihrem Umfeld. Während die jüngeren vor allem Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen oder Unruhe zeigten, fielen bei den Jugendlichen mehr internalisierende Störungen – Ängste, psychosomatische Beschwerden, Depressionen und Suiz­idalität – auf.

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Seit dem Herbst 2020 liegen die Anmeldungen in unserer Klinik beständig auf einem so hohen Niveau wie nie vorher. Die Warteliste der Poliklinik wuchs in ­kurzer Zeit von den üblichen 6–8 Wochen auf fast
6 Monate. Wir mussten unseren Anmeldeprozess ­anpassen, sondierten jede Anmeldung sorgfältig und entschieden individuell, wer sofort oder zeitnah Hilfe brauchte und wer länger warten oder an eine andere Stelle verwiesen werden konnte. Dank neuen, gemeinsam mit der Familien- und Erziehungsberatung entwickelten Gruppentherapien konnten wir niederschwellige Angebote für Jugendliche und Eltern anbieten und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen mehr Familien erreichen. Als sehr hilfreich erwiesen sich jetzt auch unser aufsuchendes Behandlungsangebot und die enge Zusammenarbeit mit ­vielen sozialpädagogischen Institutionen. Beide halfen, Patientinnen und Patienten vor Ort zu betreuen und den Druck auf die stationären Abteilungen ein wenig zu verringern.
Die Not vieler Kinder und Jugendlicher spüren wir bis heute unvermindert. Im Gegensatz zur akuten ­somatischen Morbidität und der Inanspruchnahme medizinischer Behandlung und Infrastruktur steht die Psychopathologie nicht in direktem Zusammenhang mit der Verbreitung des Virus und dem Impfstatus der Bevölkerung. Auch nach dem Übergang in den ­endemischen Zustand müssen wir dem Einfluss der Pandemie auf die Entwicklung der jungen Menschen weiter Rechnung tragen. Zwei Jahre im Leben eines Kindes oder eines Jugendlichen lassen sich nicht vergleichen mit zwei Jahren im Leben eines Erwachsenen mit seinem in der Regel gefestigteren Umfeld. Kinder durchlaufen in kurzer Zeit enorm viel Entwicklung, die sich nicht einfach nachholen lässt. Die ­Pandemie brach in eine Zeit ein, in der sich ganz besonders die jungen Menschen mit vielen Fragen zur Zukunft auseinandersetzen: den eigenen Lebens­zielen, dem Klimawandel, dem Krieg in der Ukraine, um nur drei aktuelle zu nennen. Diesem Umstand müssen wir Erwachsenen Rechnung tragen und die Kinder und Jugendlichen in ihren Fragen ernst nehmen. Trotz all dieser Sorgen bleibt der Respekt vor der Solidarität der jungen Generation mit den gefährdeten Menschen in den vergangenen beiden Jahren die Erinnerung, die mich am nachhaltigsten beeindruckt. Die Kinder und Jugendlichen haben einen enormen Beitrag für die Gesellschaft geleistet, und die meisten haben diese Zeit gut bewältigt und werden gestärkt daraus hervorgehen. Das Vertrauen in die gesunde Entwicklung der jungen Generation und die Sorgfalt im Umgang mit unserer Welt ist das, was wir Älteren jetzt zu ihrer Unterstützung beitragen können und müssen.

Prof. Dr. med. Alain Di Gallo

Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel