Als Ärztinnen auf Führungsebene noch «Species rara» waren – Erinnerungen einer Chefärztin
Im Jahre 1989 wurde Dr. med. Vreny Kamber zur Chefärztin der Inneren Medizin am Gemeindespital Riehen gewählt. Wie es dazu kam und welche Folgen das für sie und ihr Leben hatte, beschreibt sie nachfolgend in einem persönlichen Rückblick.
Im März 1989 verstarb der amtierende Chefarzt der Inneren Medizin in Riehen, Dr. med. Hans Boner, unerwartet. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Oberärztin der Inneren Medizin am Universitätsspital Basel. Mein dortiger Chef, Prof. Dr. W. Stauffacher, beorderte mich interimsmässig als stellvertretende Chefärztin Innere Medizin nach Riehen. Nach sechs Monaten Tätigkeit als Stellvertreterin wählte mich die Spitalkommission unerwartet als Chefärztin der Inneren Medizin unter 14 Bewerbern und 2 Bewerberinnen. Ich bat um drei Tage Bedenkzeit.
Damit begann für mich die schwierigste Entscheidungsphase meines Lebens: die Entscheidung zwischen Karriere im Spital oder Kind im fortgeschrittenen Alter von bereits 38 Jahren. Beide Aufgaben zusammen waren damals für Frauen kaum zu realisieren.
Entscheidung für die Karriere
Eine leitende Position, mit Arbeitszeiten von mindestens 10–12 Stunden täglich, zusätzlich Bereitschafts- und Wochenenddienste das ganze Jahr, diese lediglich geteilt mit meinem hervorragenden Stellvertreter, Dr. Peter Bernhard, liessen schon den Gedanken an ein Kind unverantwortlich erscheinen, umso mehr dessen Realisierung. (Obwohl ich damals als junges Mädchen von sechs Knaben geträumt hatte!)
Nach hartem innerem Ringen entschied ich mich für die Karriere, für das Weiterarbeiten als Chefärztin. Der innere, auch erziehungsmässig angewöhnte Ehrgeiz und das mir von der Spitalkommission entgegengebrachte sehr grosse Vertrauen waren zu verlockend. Kam hinzu, dass ich zum Zeitpunkt des Entscheids
in keiner festen Beziehung lebte. Musste ich meine damalige Entscheidung jemals bereuen? Nein!
Kurzzeitige Zweifel kamen mir nur um das Alter von 45 Jahren vor Beginn der Menopause: überall auf der Strasse sah ich «nur noch» schwangere Frauen und lauter Kinderwagen! Mein Opfer für die Position als Chefärztin, dies wurde mir schmerzlich bewusst.
Zum Zeitpunkt meiner Wahl konnte man Chefärztinnen mit der Lupe suchen, es waren schweizweit 4 %. In den meisten Spitälern herrschte damals eine männerdominierte Führungskultur. Frauen in der Ärzteschaft waren deutlich in der Minderheit. Ich hatte plötzlich eine Vorreiterposition inne und konnte für die langsam steigende Zahl junger Assistenzärztinnen Vorbild sein.
Ich erinnere mich z. B. gut an die Schlagzeile in einem Bericht des VSAO-Bulletins 1992: «Goldvreneli ermöglicht erste Jobsharing-Stelle in der Inneren Medizin».
Wie kam es dazu? Vor Antritt seiner regulären 100 %-Assistentenstelle ersuchte mich Dr. Guy Morin um eine Jobsharing-Stelle, da er soeben in den Grossen Rat BS gewählt worden sei.
Er machte meine Entscheidung einfach, weil er für die ergänzende 50 %-Stelle Frau Dr. Regula Spreyermann, seine bewährte Berufskollegin auf der Chirurgischen Poliklinik, eine alleinerziehende Mutter, vorschlug. Beide Kandidaten standen erfreulicherweise kurz vor dem FMH-Abschluss in Allgemeiner Medizin. Mein Beschluss: eine Woche arbeitete Guy Morin, die andere Woche Regula Spreyermann. Die Chefvisite auf ihrer Abteilung wurde auf den Montagmorgen verlegt, beide waren anwesend – er oder sie gratis und franco! Unserem heutigen Zeitgeist ist eine solche Einsatzbereitschaft eher fremd geworden.
«Goldvreneli wird zur Eisernen Lady»
Im Jahre 1991 folgte schweizweit das Ringen der Assistenz- und Oberärzte um die 55-Stunden-Woche. Die Ärztinnen und Ärzte arbeiteten damals, je nach Fachgebiet, mindestens 60–100 Stunden pro Woche für einen – aus heutiger Sicht – Hungerlohn. Im Gemeindespital gab es keine eigene Nachtarztstelle – ein Assistenzarzt musste also, wenn er Dienst hatte, während der Nacht weiterarbeiten (schlief im Spital, wenn es möglich war, in einem Dienstzimmer) und funktionierte am anderen Morgen wieder nahtlos als Stationsarzt.
Um für die 55-Stunden-Woche zu werben, fixierten 1991 einige Assistenten der Chirurgie und Medizin einen Pin mit der Aufschrift: «VORSICHT Dr. Übermüdet» an ihre weisse Schürze und legten Flyer auf die Betten der Patienten. Auf der Inneren Medizin verbot ich diese Propaganda, weil die Patienten wehrlos «übermüdeten Ärzten» ausgeliefert schienen. Hingegen empfahl ich den Assistenten, stattdessen auf dem Marktplatz in Basel oder auf dem Gemeindeplatz in Riehen bei gesunden Menschen ihr absolut berechtigtes Anliegen anzubringen. Im nächsten VSAO-Bulletin las ich dann die Quittung: «Goldvreneli wird zur Eisernen Lady»! Ich fühlte mich missverstanden, da ich mich doch für eine Stundenreduktion in der Spitalkommission bereits intensiv eingesetzt und für eine Aufstockung der Assistentenzahl plädiert hatte.
Während meiner Zeit als Chefärztin war der Ärztemangel noch nicht so gravierend wie heute. Ich hatte das Glück, für die Innere Medizin immer genügend Bewerbungen zu erhalten. Viele der Assistenten waren vorher bei uns im Spital Unterassistenten oder arbeiteten vorher 1 Jahr auf der Chirurgie. Anfänglich waren es überwiegend männliche Assistenzärzte. Obwohl eine Familiengründung idealerweise in eine Assistentenzeit fällt, wurde während meiner 20 Jahre im Gemeindespital nur einmal eine Assistenzärztin schwanger. Damals existierte noch keine Mutterschaftsentschädigung durch die Ausgleichskasse an den Arbeitgeber – sie wurde erst 2005 eingeführt. Heute tönt die Geschichte wie eine Anekdote: Der Ehemann dieser schwangeren Assistenzärztin war auch Arzt und übernahm unkompliziert und gratis die Nachtdienste seiner Frau in der Endschwangerschaft, um ihre Kollegen zu entlasten – gelebtes Dienen!
Meine Führungskultur war in all den Jahren intrinsisch, zwischenmenschlich geprägt: Alle Mitarbeitenden, gleich auf welcher Stufe, vom tüchtigen Reinigungspersonal über die neugierigen Lernenden, über das engagierte Pflegepersonal, die motivierten jungen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte, habe ich wenn immer möglich meine Wertschätzung spüren lassen. Ich meine, dass dieser demokratische, wenn sie wollen, weibliche Führungsstil vielen zugute-
kam – in der täglichen Arbeit, im Genesen und nicht zuletzt auch im Sterben. Lohn war für mich weniger die Entlöhnung als die dankbaren Rückmeldungen der Patientinnen und Patienten.
Feminisierung in der Medizin negativ konnotiert
Nun noch einige grundsätzliche Gedanken zur Feminisierung in der Medizin. Ich misstraue diesem Begriff, er ist für mich negativ konnotiert: es tönt so, als ob Horden von Frauen die Männer bösartig verdrängen würden. Zwar schliessen seit 2005 mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium ab. Wo bleiben sie aber – die Männer? Seit die «Götter in Weiss» von Zeitgeist, Gesellschaft und Politik mehr und mehr entmachtet werden und das Prestige und die Einkommen der Ärzte teilweise gesunken sind, suchen sich Männer lukrativere Studien mit verlockenden Berufs- und Karriereaussichten, die weniger von einer Vielzahl von Regulatoren eingezwängt werden.
In den meisten Spitälern arbeiten zurzeit 60–70 % Assistenzärztinnen, der Anteil von Chefärztinnen beträgt aber immer noch nur 14 %. Vieles hat sich in den letzten Jahren bezüglich der Arbeitsbedingungen verbessert, doch die Strukturen in den Spitälern müssen sich weiter anpassen: Aufgrund fehlender Teilzeitlösungen, fehlender spitalinterner Kinderkrippen und ungenügenden Mentorings verzichten viele begabte, motivierte Ärztinnen auf die Karriereschritte in der spitalinternen Hierarchie.
Mit meiner jahrzehntelangen Erfahrung begrüsse ich zeitgemäss begründete gewerkschaftliche Bestrebungen auf allen Stufen der Pflege und der Assistenz- und Oberärzte. Ich lehne aber überschiessende Forderungen als schädlich für das Gesundheitswesen ab, ebenso wie die zunehmend hypertrophe Bürokratie.
Wenn ich mich also heute entscheiden müsste: ich würde wieder Medizin studieren – ich würde vielleicht wieder eine leitende Position anstreben, aber ich müsste wohl aufgrund verbesserter Chancen nicht mehr auf Kinder und Familie verzichten.
Fazit: Für Frauen in der Spitalmedizin sind die Aufstiegschancen ungleich besser geworden. Gut so!

Dr. med. Vreny Kamber
Dr. med. Vreny Kamber (FMH für Innere Medizin, Ausbildung in Nephrologie und Psychosomatischer Medizin SAPPM) war zwischen 1989 und 2009 Chefärztin Innere Medizin am Gemeindespital Riehen und ab 2010 in der Funktion einer Leitenden Ärztin am Geriatriespital Adullam( im ehem. Gemeindespital Riehen) tätig. Zwischen 2011 und 2016 war sie Chefärztin Innere Medizin am Bethesda Spital Basel.
Nach der Pensionierung war sie zwischen 2017 und 2020 3 Jahre OA im Palliative Care Team Universitätsspital Basel zu 50 %.