Liebe Leser Liebe Leserinnen
Feminisierung in der Medizin beschreibt einerseits die Tatsache, dass immer mehr Frauen Medizin studieren und als Ärztinnen arbeiten. Aktuell liegt der Frauenanteil bei Assistenzärztinnen bei knapp 60 %, bei Chefärztinnen ist der Anteil
im Verlauf der vergangenen 30 Jahre schweizweit von 4 % auf heute rund 15 % gestiegen.
Andererseits ist Feminisierung in der Medizin vor allem Teil eines Wertewandels in unserer Gesellschaft, dessen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in diesem Heft zu Wort kommen. Dabei erhält der Ausdruck «Feminisierung in der Medizin» für einmal eine durchaus positive Konnotation und wird losgelöst von Debatten wie z. B. zum Ärztemangel beleuchtet. Dennoch haftet an dieser Formulierung das «Aussergewöhnliche», die Abweichung vom bisher männlich geprägten, gesellschaftlichen Normalzustand der vergangenen Jahrzehnte und sogar der Neuzeit – die Einführung des Frauenstimmrechtes 1971 und des neuen Eherechts 1985 liegen in der Schweiz zeitlich erschreckend kurz zurück!
Das Aufbrechen von traditionellen Rollenbildern geht zwar langsam, aber auf vielen Ebenen doch stetig voran. Dazu braucht es grosse und kleine Kämpferinnen, laute «Emanzen» und stillere Vorbilder: Empowerment ist vielfältig!
In meiner persönlichen Biographie finden sich bereits im familiären Umfeld ganz konkrete weibliche Vorbilder! Meine Mutter sah sich zwar in den frühen 60-er Jahren in Anbetracht ihrer beiden Kleinkinder zuhause und fehlender struktureller Rahmenbedingungen noch gezwungen, ihre Spitalkarriere am Universitätsspital Basel aufzugeben, ich erlebte aber anschliessend ihr akademisch-berufliches Weiterkommen in der Forschung, dort war man in Sachen Teilzeitarbeitsmodelle offensichtlich bereits einen Schritt voraus. Meine spätere Schwiegermutter wählte den umgekehrten Weg und fing einfach erst mit zunehmend selbstständig werdender Familie im Alter von 40 Jahren an, Medizin zu studieren, sie praktizierte danach bis ins hohe Alter. Später hatte ich das Glück, unter Persönlichkeiten wie Dr. Vreny Kamber oder Dr. Brida von Castelberg Assistenzärztin zu sein, die Wegbewegung von herkömmlichen Arbeitsstrukturen hat sich sozusagen vor meinen, ich gebe es zu, damals ungläubigen Augen abgespielt! Die Schaffung der ersten Job-Sharing-Stelle 1992 im früheren Gemeindespital Riehen war unkonventionell, aus der damaligen Sicht mutig und von vielen, Frauen und Männern, zunächst vorsichtig beschnuppert. Die Möglichkeit, mit einer 50 %-Stelle einen Facharzttitel der FMH zu erreichen, wurde salonfähig und gab uns damals jungen Assistenzärztinnen zuvor nicht entworfene berufliche und private Perspektiven! Es sollte aber noch 16 Jahre dauern, bis zwei Gynäkologinnen mit der ersten Job-Sharing-Chefärztinnen-Stelle in der Schweiz überhaupt beispielhaft eine neue Ära einläuteten.
Neben dem Vorbild und dem Empowerment ist unsere Gesellschaft vor allem aber bei der Veränderung von Strukturen und im Verhaltensdesign gefordert, um gängigen Stereotypen entgegenzuwirken. Kürzlich kam mir das neue Buch von Laura Bates, einer britischen Publizistin und Feministin, in die Hand: «Fix the System – Not the Women», in dem sie anschaulich und kritisch die Schwächen und Vorurteile einer Gesellschaft, die offensichtlich nicht für Frauen geschaffen wurde, darlegt. Wie zuvor schon in «What Works – Gender Equality by Design» von Iris Bohnet, Verhaltensökonomin aus der Schweiz und Professorin für Public Policy in den USA, finde ich darin für mich persönlich hochinteressante Denkansätze und kann beide Bücher sehr empfehlen. Wir, Frauen und Männer, sind aufgefordert, anders herum zu denken! Stereotypen können sich ändern, wenn Bewegung in unsere soziokulturellen Konzepte kommt und wir unsere Rahmenbedingungen und Arbeitsstrukturen verändern. Wir müssen die Wahrnehmung für Fehlansätze in unserer Gesellschaft gemeinsam und m.E. möglichst vorwurfsfrei schulen und pflegen. Wir Medizinerinnen, wir Frauen allgemein, sollen uns nicht bemühen, uns den männlichen Verhaltensweisen und Skills anzunähern, um ein Berufsleben lang erfolgreich arbeitstätig sein und Führungspositionen einnehmen zu können. Es sind Strukturen wie z. B. genügend lang geöffnete Kinderkrippen im Arbeitsumfeld z. B. eines Spitals oder eine geschlechterneutrale Willkommenskultur am Arbeitsplatz, die gewährleistet werden müssen. Wir Ärztinnen sollen uns auch nicht schlecht fühlen und mit dem, in den meisten Fällen, Selbstvorwurf der «Rabenmutter» umgehen müssen, nur weil wir unsere traditionell zugedachten Lebensformen bewusst für Studium und Karriere aufgeben oder zumindest anpassen und im Vergleich mit hergebrachten Mustern damit weniger Bastelnachmittage und Kindergeburtstage gestalten! Väter (oder Grossväter) und Partner beanspruchen vermehrt eine tragende Rolle in der Familiengestaltung, das ist ein Teil des Wandlungsprozesses und sehr gut so!
Um in der Medizin, aber auch allgemein, geeignete Rahmenbedingungen für äquivalente berufliche Karrieren zu fordern und umzusetzen, ist es unerheblich, wenn Frauen und Männer dabei nicht einen zu 100 % deckungsgleichen Ansatz haben. Einer Ärztin werden z. B. eher Attribute wie «caring and lasting» zugeordnet, ein Arzt wird eher mit «short-term and performance-based» in Verbindung gebracht. Somit könnte in Anbetracht der zahlenmässigen Entwicklung des Frauenanteils in der Medizin das Thema «Feminisierung in der Medizin» durchaus auch auf die Formulierung «Feminisierung der Medizin» ausgeweitet werden.
Ein gesellschaftlicher «Normalzustand» ist nie einfach nur Stillstand und auch nicht Endpunkt, und v. a. ist er immer menschengemacht! Im Wort Feminisierung liegt die Bedeutungsnuance des Geschehens – ebenso wie ein «Normalzustand» immer im Fluss ist, auch wenn er der Aktualität stets etwas hinterherhinkt. Feminisierung als Normalisierung! Wir hören aus den Texten der Autorinnen die Freude an Beruf und an Karriere, manchmal auch Bedauern, auf Familie verzichtet zu haben. Hier hat sich glücklicherweise schon viel Positives für uns Ärztinnen getan – aber ist es nicht so, dass auch Ärzte sich hier genauso entwickeln könnten? So gesehen ist die Vision nicht abwegig, dass ganz generell auch Männer aufgrund soziokultureller und persönlicher Entwicklung eines Tages ihre männlichen Stereotypen abschütteln können und, im Sinne des Lebensentwurfs der Ko-Evolution, wie es Prof. Martin Oberholzer in seinem Text in Bezugnahme auf den Autor Jürg Willi schildert, Teilzeitjobs auch für sie etabliert und v. a. gesellschaftlich ohne negative Stigmatisierung sein werden.
Viel Vergnügen und Anregung bei der Lektüre dieser Ausgabe der Synapse!