Für eine «Ko-Evolution» – die Feminisierung aus männlicher Sicht

Was bedeutet(e) die Feminisierung für Männer in der Medizin? Prof. Dr. med. Martin Oberholzer beschreibt im nachfolgenden Text, wie er die Anfänge der Feminisierung als Arzt erlebt – und wie er darauf reagiert hat.

Am 1. November 1973 trat ich meine erste Stelle als Assistenzarzt an. Vorher hatte ich meinen Grad als Leutnant der Sanitätstruppen abzuverdienen. In der Armee gab es damals nur den Sold und noch keinen Erwerbsausgleich. Während dieser vier Monate kam meine Frau für unseren Lebensunterhalt auf, denn als junger Assistenzarzt konnte man damals mit der Weiterbildung meistens erst nach der Brevetierung als Militärarzt ­beginnen. Diese Gewohnheit passte überhaupt nicht zum damaligen Eherecht aus dem Jahre 1907 (ja richtig: aus dem Jahr 1907!). Das Gesetz verlangte, dass die Ehefrau die Erlaubnis des Ehemannes einholen musste, wenn sie ihren Beruf ausüben und ein Bankkonto eröffnen wollte. Wie viele Ärztinnen damals von dieser Regelung konkret betroffen waren, kann ich nicht beurteilen. Die ­Situation war auf jeden Fall für alle Frauen mit einer Ausbildung absurd ­geworden. Das neue Eherecht wurde dann am 22. September 1985 mit (nur) 54,7 % der Abstimmenden (in Basel-Stadt mit 67,8 %) angenommen. Die Stimm­beteiligung betrug niedrige 41,1 %. Das neue Eherecht wurde also nur zaghaft angenommen. Das mag mit einer der Gründe dafür gewesen sein, dass bis Ende der 1990er-Jahre nicht viele Frauen den Ärztinnenberuf wählten, wenigstens in unserem gesellschaftlichen Umfeld nicht.
Der Kampf der Frauen um die Gleich­berechtigung hatte schon Jahrzehnte lang gedauert, bevor die Frauen das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene erhielten. Nach einer Ablehnung dieses Frauenstimmrechts traten 1959 die Lehrerinnen des Mädchengymna­siums Basel am Montag nach der Abstimmung in den Streik [1]. Das Aufsehen darüber war in der Schweiz sehr gross. Den Frauen wurde dann am 7. Februar 1971 das Stimm- und Wahlrecht endlich zu­gesprochen. Dieses Ereignis war der Startpunkt für die immer intensiver ­werdende Diskussion um die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Aus meiner Sicht hat diese Diskussion zu Fortschritten geführt. Diese Fortschritte genügen aber noch nicht: Die Kindertagesstätten sind immer noch viel zu teuer und noch viel zu wenig vom Staat subventioniert. Ich kann mich auch erinnern, dass es während meiner Zeit im Beruf nicht ­selten diskriminierende Anstellungs­bedingungen für Ärztinnen und Bemerkungen sexistischer Art gegenüber Ärztinnen gegeben hatte.

Neues Frauenbild muss patriarchale Strukturen überwinden
Ein wichtiges Zeichen der Qualität einer Kultur ist die Art und Weise, wie Männer und Frauen im Öffentlichen und Privaten miteinander umgehen. Dies muss weiterhin verbessert werden, und zwar durch ein gründliches Überdenken des Frauenbildes, durch eine Steigerung des Respekts vor Frauen und durch eine ­Reform patriarchaler Strukturen. In der Medizinischen Fakultät der Universität Basel gab es, solange ich deren Mitglied war, keine Ordinaria. Kurz nach meiner Emeritierung wurde Frau Prof. Daniela Finke Ordinaria für Molekulare Medizin am Universitätskinderspital beider Basel. 2013 wurde das erste Mal in der Schweiz Frau Prof. Viola Heinzelmann-Schwarz Ordinaria für Gynäkologie und Chefin ­einer universitären Frauenklinik. In anderen Fakultäten der Universität Basel ­geschah diese Entwicklung schon bedeutend früher.
1977 erschien die erste Ausgabe der feministischen Zeitschrift «Emma» von Alice Schwarzer, einer deutschen Journalistin. Kurz nach Erscheinen abonnierte ich die Zeitschrift. Der Name «Emma» wurde übrigens von den ersten drei Buchstaben des Wortes Emanzipation abgeleitet. Die Artikel waren sehr informativ und interessant. Die Frage, wie meine Frau und ich unsere Familie und unsere Berufe pflegen wollen, stand für eine Weile im Mittelpunkt unserer Planungen. Nach dem überkommenen Rollenbild – über das neue Eherecht wurde ja erst 1985 abgestimmt – sorgte ich für das regelmässige Einkommen, meine Frau für die Familie. Wir machten aber miteinander ab, dass meine Frau auch während der Zeit der Kinderbetreuung nicht aus dem Beruf aussteigt und immer ein minimales ­Pensum behält. Später erwies sich dieser Entscheid als richtig, nämlich ab dann, als die Kinder begannen, selbständig zu werden.

Studentinnen arbeiten anders als Studenten
Emanzipation wurde von den Studentinnen auch in den Hörsälen demonstriert. In den 1980er-Jahren wurde es Mode, dass Studentinnen sich während der ­Vorlesungen in den hinteren Rängen der Säle niederliessen und gleich zu Beginn der Vorlesung eine «Strickete» hervornahmen und dann die Zeit mit Stricken und Zuhören verbrachten. Das störte ­ältere männliche Dozierende derart, dass sie die Vorlesung abbrachen und den Saal verliessen. Ich selber erlebte dieses Tun der Studentinnen als etwas Neues und Originelles. Es hielt mich aber nicht ab, weiterhin während der Vorlesungen meine Kontrollfragen zu stellen. Selbstverständlich lud ich auch ab und zu die Studierenden der hinteren Ränge zu ­einer Antwort ein. Den Frust darüber, dass nicht alle Damen Talent für Multitasking hatten, steckte ich weg mit der Überlegung, dass in meinem Gehalt ja auch ein Betrag für das Ertragen von Frust als Lehrer enthalten sei.
Während meiner Zeit als Hochschullehrer nahm ich wahr – wahrnehmen ist eine ganz subjektive Wahrheitsempfindung –, dass die Studentinnen grundsätzlich anders arbeiteten als die Studenten. Ich erinnere mich gut daran, dass die Studentinnen neugieriger waren, initiativer, beweglicher, konzentrierter, überlegter, diskreter. Sie konnten sich ein­facher auf neu aufgetretene Aspekte einstellen, zum Beispiel während einer «Doktorarbeit». – Die ehemaligen Studenten aus der Zeit von 1991 bis 2009, welche diesen Artikel lesen, mögen mir diese persönliche Beurteilung nach­sehen. Denn es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sie ungerecht ist.
Eine schöne, sehr lehrreiche, aber auch fordernde Zeit waren die knapp drei Jahre (1992–1994), während deren ich interimistisch im Auftrag des damaligen Sanitätsdepartementes und der Medizinischen Fakultät die Universitätsfrauenklinik Basel führen musste. Das war eine ganz neue Erfahrung. Es arbeiteten ungefähr gleich viele Ärztinnen wie Ärzte an der Klinik. Um die damalige Krise ­bewältigen zu können, entwickelten die Oberärztinnen und Oberärzte, leitenden Ärztinnen und Ärzte sowie die drei­köpfige Klinikleitung einen Verhaltenskodex. Ich sehe heute noch das Engagement und die Kreativität, die ­Ehrlichkeit, die Offenheit und die Glaubwürdigkeit, mit welcher die Ärztinnen beim Verfassen dieses Dokuments und anschlies­send auch bei der Umsetzung mitgewirkt haben. Es entwickelte sich im ganzen Team sogar der Mut, neue Führungselemente auszuprobieren. Der ­«Aktion» wurde das Motto «Ko-Evolution» zugrunde gelegt.

Frauen und Männer entwickeln sich gemeinsam
Die «Ko-Evolution» kam – in meiner Erinnerung – ins Gespräch im Nachgang zur Publikation des Buches von Jürg Willi 1987 mit dem gleichen Titel [3]. Dieser Bestseller war die Antwort auf die, vor ­allem in der Medizin, intensiv diskutierte Frage: «Welche Möglichkeiten haben die Frauen und die Männer zusammen, ihre eigenen Lebensziele zu erreichen?» Die einfache Grundthese des Autors war: Frauen und Männer entwickeln sich ­gemeinsam. Das erfordert Anerkennen der Grundverschiedenheit zwischen Frau und Mann, gemeinsames Planen und den Willen, den Weg zur Gleichberechtigung gemeinsam und kompromissbereit zu gestalten. Wenn wir Männer ehrlicher wären, würden wir häufiger zugestehen, welchen grossen Gewinn emanzipierte Frauen in ein Team einbringen können, in der Partnerschaft, aber auch in einer Klinikleitung.
Über die Entstehung des heute noch ­dominierenden Patriarchats in unserer Gesellschaft erschien 2020, also erst vor zwei Jahren, ein sehr interessantes Buch von Carel van Schaik und Kai Michel: «Die Wahrheit über Eva». [2]. Die Autoren ­schreiben: «Gesellschaftliche Konventionen, Ideologien oder Institutionen sind … geronnene Geschichte und noch viel ­persistenter; sie transportieren …. ihre Entstehungszeit ins Heute. Wir haben das Cultural-Lag-Phänomen (kulturelle Phasenverschiebung, MO) beschrieben: Kulturelle Gebilde haben die Tendenz, den Ereignissen hinterherzuhinken. Damit geben sie einer Gesellschaft … Stabilität, erschweren aber als Verkrustungen den Wandel … Die Anwesenheit des Antiquierten: Patriarchale Vergangenheit lastet immer noch bleiern auf der Gegenwart, obwohl sich die konkreten Umstände zum Besseren gewendet haben.» Es bleibt noch einiges zu tun – in unserer Gesellschaft, auch zugunsten der Ärztinnen.

Literatur
1 Belleville Wiss, E. (2009). Stadt und Gesellschaft: Der Lehrerinnenstreik am Basler Mädchengym­nasium. Eine denkwürdige Episode im Kampf um das Frauenstimmrecht S. 78–83). Basel, Christoph Merian Stiftung.
2 van Schaik, C. and K. Michel (2020). Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von ­Frauen und Männern. Hamburg, Rowohlt Verlag GmbH.
3 Willi, J. (1987). Koevolution. Die Kunst gemein­samen Wachsens. Zürich, Buchclub Ex Libris.

Prof. Dr. Martin Oberholzer-Riss

Prof. em. Dr. med. Dr. h.c. Martin Oberholzer-Riss (1946) war von 1982 bis 2009 Stellvertreter des Vorstehers des Departements für Pathologie des Universitäts­spitals Basel. Von Anfang 1992 bis Ende 1994 leitete er interimistisch die Universitätsfrauenklinik Basel im Auftrag des damaligen Sanitätsdepartements. Er gilt als Pionier der Telemedizin. Er ist seit 50 Jahren verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.