Medizin als «familiäre Konstante»

Schon ihre Grossmutter und Mutter waren Ärztinnen. Was bedeutet es für eine heutige Medizinstudentin, wenn die Medizin in der Familie eine Art «familiäre Konstante» darstellt? Ist das ein Vor- oder ein Nachteil? Maja Wright lässt keine Zweifel auf­kommen, beschreibt im nachfolgenden Text ihre Familiengeschichte mit viel Respekt für ihre Vorgängerinnen – und für die Medizin.

Aufgewachsen bin ich in einer Gross­familie mit vier Geschwistern. Wir haben es sehr genossen, eine grosse Familie zu sein, und haben immer viel gemeinsam unternehmen können. Nun studieren vier von uns Medizin in der Schweiz, die fünfte ist bereits als Ärztin tätig.
Meine Grossmutter mütterlicherseits war Pädiaterin, doch ihr Weg dorthin war nicht leicht. Aufgrund des Widerstandes ihres Vaters gegen das nationalsozialistische Regime konnte sie nach ­seiner erfolgten Entlassung aus dem Staatsdienst das Gymnasium nicht mehr besuchen und musste als Hausmädchen arbeiten. Sie machte in der Folgezeit eine Ausbildung als Köchin und dann als Physiotherapeutin. 1943 holte sie ihr Abitur nach und begann mit 26 Jahren ihr Medizinstudium. Anfang 1945 wurde sie vom Roten Kreuz in ein Kriegsverletzten­lazarett nach Magdeburg beordert. Nach dem Krieg durften die Frauen mit Bestnoten dann weiterstudieren, die übrigen mussten die Studienplätze für die zurückkehrenden Männer frei machen. Aber Stellen waren damals sehr schwer zu ­finden, insbesondere für Frauen. Sie ­arbeitete daher zunächst unbezahlt als Ärztin in einem Frauenspital und dann in einem Kinderspital. Ihr Chef wollte ihr keine bezahlte Stelle geben und begründete dies wie folgt: «Frauen bekommen ja dann doch nur Kinder und gehen.» So verdiente sie den Unterhalt für die Kinder und den in der Schweiz studierenden Ehemann neben der Spitalarbeit als ­Physiotherapeutin. Mit zunehmender Berufserfahrung wurde dann alles ein­facher, sie fand eine regulär bezahlte Stelle und hatte in der Folgezeit bis ins hohe ­Alter sehr grosse Freude an ihrem Beruf.
Bei meiner Mutter sah es etwas anders aus. Schon seit ihrer Kindheit hatte meine Mutter den festen Wunsch, den Weg des Medizinstudiums zu beschreiten. Von unserer Grossmutter bekam sie vorgelebt, wie abwechslungsreich das ­Leben als Medizinerin sein konnte. Im Gegensatz zu ihr konnte meine Mutter ihr Studium ohne Unterbrechung absolvieren. Nach dem Studienabschluss mit 24 Jahren verbrachte sie daraufhin im Rahmen eines molekularbiologischen Forschungsprojektes einige Jahre in den USA. Wieder in Europa angekommen, entschied sie sich zunächst für eine Ausbildung in der Inneren Medizin und dann für einen Werdegang in der Psychiatrie und Psychotherapie. Teilzeitstellen gab es damals allerdings kaum.

Nachfolgend beantworte ich nun noch ein paar Fragen, die mir die Redaktion der Synapse gestellt hat.

Was haben Sie von Ihrer Grossmutter und Ihrer Mutter bezüglich der ärztlichen Tätigkeit gelernt?
Da meine Grossmutter bereits verstarb, als ich drei Jahre alt war, erfuhr ich erst von ihrer Vergangenheit als Ärztin durch die Erzählungen meiner Familie. Von meiner Mutter war ich schon in meiner Kindheit begeistert: Sie hatte ihre eigene Praxis, arbeitete stets in Vollzeit, konnte jedoch zugleich für uns Kinder da sein. Wir bekamen mit, wie fordernd und gleichzeitig erfüllend der Beruf als Ärztin für sie war. Rückblickend war sie es wohl, die uns alle fünf Kinder für die Medizin begeisterte und uns aufzeigte, was der Beruf mit sich bringen kann.

Welche Fachrichtung innerhalb der Medizin streben Sie an?
Nach dem gegenwärtigen Stand sehe ich mich entweder in der Psychiatrie oder in der Pädiatrie. Vielleicht wäre auch eine Kombination der beiden Fächer interessant für mich. Diese Interessen sind teilweise beeinflusst durch die Erzählungen meiner Mutter und indirekt meiner Grossmutter wie auch durch die Erfahrungen, die ich bisher im Rahmen des Studiums sammeln konnte. Da sich zurzeit jedoch viele Fachrichtungen im ­Wandel befinden, möchte ich mich noch nicht definitiv festlegen. Aktuell befinde ich mich im Wahlstudienjahr und freue mich bereits auf die Einblicke und Er­fahrungen in die Psychiatrie und Pädia­trie, sowie in die vielen anderen Fach­bereiche.

Wie erleben Sie diese «familiäre medizinische Konstante» persönlich? Ist das ein Vor- oder Nachteil für Sie?
Durch die «familiäre medizinische Konstante» erlebe ich viele Vorteile: Ich erhalte z. B. sowohl von meiner Mutter als auch meinen Geschwistern Unterstützung, sei es beim Verstehen von Inhalten oder bei der Verarbeitung belastender Patientenschicksale. Der Austausch über medizinische Sachverhalte nimmt eine andere Gestalt an, wenn das Gegenüber nachvollziehen kann, wovon man spricht, respektive Ähnliches bereits selbst erlebt hat. Zudem finde ich es inspirierend zu sehen, welche verschiedenen Wege eingeschlagen werden, obwohl der Start an der Universität für uns alle der gleiche war.

Wie erleben Sie die Medizin heute konkret als Frau? Sind Sie gleichgestellt mit den Männern?
Über die drei Generationen meiner Familie hinweg erkennt man den Wandel der Zeit in der Medizin recht gut wieder. Der immer grösser werdende Zugang zu Bildung für Frauen, die sich bessernden Studienbedingungen sowie vermehrte Möglichkeiten bei den ärztlichen Tätigkeiten nach dem Studium sind hierbei besonders bemerkenswerte Faktoren. Während meine Grossmutter in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts darum kämpfen musste, als Frau Medizin studieren zu können, müssen wir heute den Numerus clausus bestehen, ganz egal, ob Frau oder Mann. Waren es in den Generationen vor der Zeit meiner Grossmutter nur Männer, die Medizin studierten, machen die Frauen im Medizin­studium an unserer Universität etwa zwei Drittel der Studierenden aus.
Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt es jedoch weiterhin. Wurden Kaderpositionen früher vermehrt durch Ärzte besetzt, finden sich heutzutage immer mehr Ärztinnen in leitenden Positionen. Die teilweise ungleiche Verteilung von Ärztinnen und Ärzten in bestimmten Fachgebieten (z. B. Pädiatrie, Gynäkologie oder Orthopädie) beziehe ich nicht in erster Linie auf das Geschlecht, sondern oft auf Interessenschwerpunkte und ­andere Aspekte wie z. B. gesellschaft­liche Prägungen. Ich bin überzeugt, dass in ­allen Fachrichtungen, einhergehend mit dem Fortschritt der Medizintechnik und Forschung sowie den zunehmenden Möglichkeiten in der medizinischen Arbeitswelt, eine weitere Umverteilung stattfinden wird. Als Frau fühle ich mich allein wegen meines Geschlechts in der Ärzteschaft nicht grundsätzlich benachteiligt. Auch wenn man sieht, dass die ­leitenden Positionen in den chirur­gischen Fächern weiterhin mehrheitlich von männlichen Ärzten besetzt werden und in pädiatrischen und gynäkolo­gischen Fachbereichen schneller zunehmend Frauen eingestellt werden, denke ich nicht, dass dies mit einer grundsätz­lichen Benachteiligung zu tun hat. Mit dem zunehmend grösseren Anteil an Frauen im Medizinstudium wird sicherlich auch der Anteil an Frauen in leitenden Positionen in den Fächern steigen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Insbesondere wenn noch bessere Modelle geschaffen werden, durch die die Fami­liengründung für Frauen sich noch ein­facher mit der beruflichen Tätigkeit verbinden lässt. Insgesamt finde ich es bereits ­erfreulich, wie sich alles rund um das ­Medizinstudium sowie die Arbeit als Ärztin verändert hat und wir nicht mehr am selben Punkt stehen wie meine Grossmutter vor 80 Jahren.

Welche Wünsche haben Sie an die Politik bezüglich Gesundheitspolitik?
In meinen bisherigen vier Monaten des Wahlstudienjahres ist mir bisher aufgefallen, dass sich der Patientenkontakt ­respektive die Zeit dafür leider doch sehr in Grenzen hält und zunehmend durch administrative Aufgaben und Tätig­keiten «verdrängt» wird. Gerade in Fachbereichen wie der Inneren Medizin finde ich es sehr bedauerlich, dass diese ad­ministrativen Tätigkeiten einen grösseren Teil des Arbeitsalltages einnehmen als der Kontakt mit den Patienten selbst, zumal das Bedürfnis der Patienten nach einem mehr als nur fünfminütigen Gespräch meiner Ansicht nach deutlich zunimmt. Ob eine Umverteilung dieser administrativen Tätigkeiten auf zusätzlich administrativ ausgebildete Fachkräfte sinnvoll wäre, ist meines Erachtens eingehender zu prüfen. Würde sich diese administrative Arbeit vermehrt auf zusätzliches Personal verschieben, wäre die Arbeitsbelastung der Ärzteschaft ­tiefer. Durch weniger Überlastung wäre die medizinische Qualität der Arbeit dann eventuell sogar höher. Dies könnte zusätzlich eine Förderung der Familienplanung und den anschliessendem Wiedereinstieg der Frauen begünstigen.
Ausserdem sehe ich noch grossen Entwicklungsbedarf im Bereich der Digitalisierung: Wäre es beispielsweise möglich, aus dem Spital direkt Einsicht in die ­Diagnosenliste, Medikation und Vor­geschichte eines Patienten zu erlangen, ohne diese zuerst bei einem anderen ­Spital oder einer Praxis anfordern zu müssen, könnte man viel Zeit sparen, welche ggf. dem Patienten zugutekäme.
Ein weiteres Anliegen an die Politik wäre ein erweitertes Angebot an Teilzeitstellen, insbesondere auch während der Assistenzarztzeit. Da die Familienplanung bei einigen bereits während des Studiums oder bereits kurz danach beginnt, könnte man den frischgebackenen Eltern so einen früheren Wiedereinstieg in
die Tätigkeit im Spital ermöglichen und gleichzeitig dem Ärztemangel entgegenwirken. Ein Mangel an Teilzeitstellen ist heutzutage noch immer eher ein Nachteil für Frauen, denn dies bedeutet, dass sie aus dem Beruf häufig länger aus­steigen, wenn es zur Familienplanung kommt, während der Mann weiter in der Medizin tätig bleibt. Für eine weitere ­Förderung der Frau in der medizinischen ­Arbeitswelt wäre die Schaffung weitere Teilzeitstellen ein sehr sinnvoller Aspekt. Im Studium haben wir zwar ein Über­gewicht an Frauen, aber später in den Positionen der Oberärzte und den leitenden Positionen gibt es anteilsmässig noch deutlich weniger Frauen, weil diese aufgrund fehlender ausreichender Förderungen im familiären Kontext häufig länger aus dem Beruf ausscheiden und ihre Facharztausbildung somit oft später abschliessen. In diesem Zusammenhang wäre meines Erachtens zusätzlich eine flexiblere Lösung betreffend des Mutter-/Vaterschaftsurlaub anzustreben, zum Beispiel durch eine individuell wählbare Aufteilung der Zeit zwischen beiden Elternteilen, wie dies bereits z. B. in manchen europäischen Ländern erfolgreich angewandt wird.

Maja Wright

Maja Wright ist Medizinstudentin im 5. Jahr an der Universität Basel. Aktuell befindet sie sich im Wahlstudienjahr und arbeitet auf der Inneren ­Medizin.