«Ja, die Co-Leitung war von Anfang an ein Erfolg»

Fragen an Frau Dr. med. Brida von Castelberg

Dr. med. Brida von Castelberg: In erster Linie die Arbeitszeit. Als ich im Spital zu arbeiten begann, hiess es im Vertrag noch «Die Arbeitszeit richtet sich nach den Bedürfnissen des Spitals.» Es gab ausserdem keine Beschränkungen bezüglich Wochenend- und Nachtarbeit, was eine Familienplanung praktisch unmöglich machte. Das wäre heute nicht mehr denkbar.
Neu ist heute auch die Möglichkeit der Teilzeitarbeit, was vor allem für Frauen ein Vorteil ist. Zudem führt der generelle Ärztemangel zu einer Aufwertung auch der Frauen in der Medizin, die begehrt sind wie nie zuvor. Dieser Ärztemangel hat im gewissen Sinne auch zu einer «Gleichstellung» zwischen Männern und Frauen geführt.

Das hängt davon ab, ob eine Frau Karriere machen will oder nicht. Zudem muss man die Fächer differenziert betrachten, es gibt Fächer, da sind Frauen mindestens gleich-, in einigen sogar bessergestellt, zum Beispiel in der Gynäkologie oder Pädiatrie.
Die Chirurgie hingegen ist nach wie vor männerdominiert, da hat eine Frau, die eine Teilzeitanstellung oder ein Jobsharing wünscht, auch heute noch wenig Chancen, eine Stelle zu erhalten. Und auch auf der Führungsebene in der Chirurgie sind ein Jobsharing oder Teilzeitstellen undenkbar.
Dazu kommt noch eine andere Benachteiligung der Frauen in der Chirurgie – die Sicht und die Einstellung einiger Patientinnen und Patienten, die in der Regel von Männern behandelt werden wollen und nur ihnen vertrauen. Ich habe das mehrfach erlebt. Es gibt wahrscheinlich nicht viele Patientinnen und Patienten, die es wagen, beispielsweise eine Bauchoperation von einer Frau durchführen zu lassen..

Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Attraktivität und der Status des Arztberufes in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allem für weisse Männer abgenommen haben. Ich beziehe mich dabei vor allem auf Untersuchungen in den USA, die gezeigt haben, dass weisse Männer weniger Interesse am Arztberuf haben, seit vermehrt Frauen und Schwarze in die Medizin eingestiegen sind.

Weil es auf der Chefarztebene – trotz angeblicher Frauenförderung – praktisch nur eine Männerförderung gibt. Ausserdem sind die Rahmenbedingungen auf dieser Ebene derart, dass sich dies die meisten Ärztinnen nicht antun wollen.

Einerseits wegen des Anspruchs der dauernden Verfügbarkeit, anderseits wegen der zahlreichen Sitzungen, an denen man als Chefin teilnehmen muss. Ich musste zu meiner Zeit als Chefin Gynäkologie immer wieder an Spitalleitungssitzungen teilnehmen, wo über Dinge gesprochen wurde, die mich entweder nicht betrafen oder nicht interessierten, aber sehr viel Zeit in Anspruch nahmen. Diese Sitzungen gingen immer auf Kosten des Patientenkontaktes. Das wollen sich viele Frauen nicht antun.

Ich arbeite seit über 10 Jahren nicht mehr im Spital und kann das aus heutiger Sicht nicht beurteilen.
Gleichwohl habe ich zu meiner aktiven Zeit im Spital Erfahrungen gemacht, die diese These bestätigen. Das hat wahrscheinlich mit dem Selbstbild und dem Selbstverständnis einer Frau zu tun, wie sie Medizin interpretiert. Ich meine damit, dass sich Frauen mehr als Männer an Aspekten des «caring» orientieren. Ausserdem orientieren sich Frauen mehr als Männer an der «Langzeitfürsorge». Das heisst: Frauen sind schnelle Erfolge – wie beispielsweise in der Herzchirurgie – weniger wichtig als Männern. Dazu kommt, dass Frauen mehr aufs Gespräch mit den Patienten setzen und weniger auf «paternalistische Verordnungen».

Ja, ich würde nochmals Medizin studieren, und ich würde auch nochmals mit der Chirurgie beginnen. Und wahrscheinlich würde ich heute sogar in der Chirurgie bleiben. Als ich in die Medizin einstieg, war es für Frauen praktisch unmöglich, in die «grosse» Chirurgie vorzudringen. Frauen waren vor allem im Bereich der kleinen, der sogenannten «Varizen- und Leistenbruch-Chirurgie» tätig. Das ist heute nicht mehr so. Frauen waren vor allem im Bereich der kleinen.

Die Medizin ist heute wesentlich spezialisierter als zu meiner Zeit, deshalb muss sich jede Frau gleich zu Beginn fragen: Welches Fach interessiert mich? Ausserdem würde ich den jungen Frauen vor allem die Vorteile einer Gruppenpraxis empfehlen.

Ich denke schon. Ich erinnere mich an ein Vorstellungsgespräch mit einer jungen Ärztin, die mit einem Baby im Arm zum Bewerbungsgespräch kam. Diese Frau hat gleich zu Beginn klare Zeichen gesetzt, zum Beispiel: Für mich gibt es nicht nur die Medizin, sondern auch noch ein Privat- und Familienleben. Ich fand das mutig und selbstbewusst, weshalb ich diese Frau eingestellt habe.

Vor allem bei den Kinderkrippen, und zwar solchen, die ab morgens 6 Uhr bis abends 21 Uhr offen sind, damit mehr Ärztinnen zur Arbeit gehen können.

Schon, aber mit unmöglich kurzen Präsenzzeiten.

Frau von Orelli war bei mir schon Assistenzärztin, die ich schon damals als sehr begabte Ärztin erlebt habe. Als es dann darum ging, eine Co-Leitung auf der Gynäkologie zu installieren, waren wir beide bereit, eine lange, intensive, fast einjährige Vorbereitungszeit zu durchlaufen, wozu auch ein Coaching gehörte.

Ja, die Co-Leitung war von Anfang an ein Erfolg. Wir hatten nie ernsthafte Probleme oder Spannungen, es gab auch keine «Machtspiele». Ich habe diese Führungszeit mit Frau von Orelli als toll empfunden, nicht zuletzt auch, weil unsere Freundschaft in dieser Zeit noch intensiver wurde.
Vielleicht war es für die Mitarbeitenden nicht ganz so einfach, weil sie zwei Chefinnen hatten.

Dazu braucht es nicht nur eine gemeinsame «Wertedefinition», sondern auch eine ähnliche Charakterstruktur, zumindest bei uns beiden war das der Fall, wir waren und sind ähnliche Typen. Dazu kam der Wille von uns beiden, diesem Jobsharing-Modell zum Durchbruch zu verhelfen. Oder anders gesagt: Wir suchten und wollten den Erfolg, nicht zuletzt, weil dieses Modell schweizweit als Exempel galt und beobachtet wurde und deshalb funktionieren musste.
Das Wichtigste aber im Rückblick war die lange, gute Vorbereitungszeit.

Nein. Als ich die Diagnose bekam, rechnete ich mit einer restlichen Lebenszeit von etwa 6 Monaten. Es war ein Tumor. Ich habe alle schulmedizinischen Therapien «pickelhart» durchgezogen. Dazu kamen aber auch noch andere Therapien.

Es geht mir heute 6 Jahre nach diesen Therapien sehr gut, welche genau dafür «verantwortlich» ist, kann ich nicht sagen.

Das kann ich nicht sagen. Ich kann aber sagen, dass ich bereits sehr viele nahestehenden Personen in meinen Leben verloren habe. Mit dieser Erfahrung kann ich heute sagen: Sterben ist nicht so schlimm, wenn man zu Hause sterben kann.

Nein. Nicht mehr nach meiner Tumordiagnose 2016.

Niemand auf dieser Welt kann wissen, was nach dem Tod kommt. Ich glaube aber, dass etwas kommt, weiss aber nicht was.

Nein. Vielleicht hat das auch damit zu tun dass ich in einem sehr katholischen Umfeld aufgewachsen bin. Ich denke, dass die Palliativmedizin heute eine sehr gute Alternative dazu ist.

Eigentlich wollte ich mich schon längst von der Medizin abkoppeln, was mir aber noch nicht so recht gelungen ist. Ich
bin heute in der «Akademie Menschenmedizin» tätig und werde hier noch weiter tätig sein. Innerhalb der Akademie arbeite ich an einem Projekt «Ombudsstelle für das Gesundheitswesen» mit. Ausserdem bin ich im Board SOS-MEDITERRANE, das ist ein Rettungsschiff.

Die Fragen stellte Bernhard Stricker,
Redaktor Synapse

Dr. med. Brida von Castelberg

Mitglied der Redaktion Synapse

Bernhard Stricker

Redaktor Synapse

Feminisierung in der Medizin beschreibt einerseits die Tatsache, dass immer mehr Frauen Medizin studieren und als Ärztinnen arbeiten. Aktuell liegt der Frauenanteil bei Assistenzärztinnen bei knapp 60 %, bei Chefärztinnen ist der Anteil im Verlauf der vergangenen 30 Jahre schweizweit von 4 % auf heute rund 15 % gestiegen.

Andererseits ist Feminisierung in der Medizin vor allem Teil eines Wertewandels in unserer Gesellschaft, dessen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in
diesem Heft zu Wort kommen. Dabei erhält der Ausdruck «Feminisierung in der Medizin» für einmal eine durchaus positive Konnotation und
wird losgelöst von Debatten wie z. B. zum Ärztemangel beleuchtet. Dennoch haftet an dieser Formulierung das «Aussergewöhnliche», die Abweichung vom bisher männlich geprägten, gesellschaftlichen Normalzustand der vergangenen Jahrzehnte und sogar der Neuzeit – die Einführung des Frauenstimmrechtes 1971 und des neuen Eherechts 1985 liegen in der Schweiz zeitlich erschreckend kurz zurück!
Das Aufbrechen von traditionellen Rollenbildern geht zwar langsam, aber auf vielen Ebenen doch stetig voran. Dazu braucht es grosse und kleine Kämpferinnen, laute «Emanzen» und stillere Vorbilder: Empowerment ist vielfältig!
In meiner persönlichen Biographie finden sich bereits im familiären Umfeld ganz konkrete weibliche Vorbilder! Meine Mutter sah sich zwar in den frühen 60-er Jahren in Anbetracht ihrer beiden Kleinkinder zuhause und fehlender struktureller Rahmenbedingungen noch gezwungen, ihre Spitalkarriere am Universitätsspital Basel aufzugeben, ich erlebte aber anschliessend ihr akademisch-berufliches Weiterkommen in der Forschung, dort war man in Sachen Teilzeitarbeitsmodelle offensichtlich bereits einen Schritt voraus. Meine spätere Schwiegermutter wählte den umgekehrten Weg und fing einfach erst mit zunehmend selbstständig werdender Familie im Alter von 40 Jahren an, Medizin zu studieren, sie praktizierte danach bis ins hohe Alter. Später hatte ich das Glück, unter Persönlichkeiten wie Dr. Vreny Kamber oder Dr. Brida von Castelberg Assistenzärztin zu sein, die Wegbewegung von herkömmlichen Arbeitsstrukturen hat sich sozusagen vor meinen, ich gebe es zu, damals ungläubigen Augen abgespielt! Die Schaffung der ersten Job-Sharing-Stelle 1992 im früheren Gemeindespital Riehen war unkonventionell, aus der damaligen Sicht mutig und von vielen, Frauen und Männern, zunächst vorsichtig beschnuppert. Die Möglichkeit, mit einer 50 %-Stelle einen Facharzttitel der FMH zu erreichen, wurde salonfähig und gab uns damals jungen Assistenzärztinnen zuvor nicht entworfene berufliche und private Perspektiven! Es sollte aber noch 16 Jahre dauern, bis zwei Gynäkologinnen mit der ersten Job-Sharing-Chefärztinnen-Stelle in der Schweiz einläuteten.

«Medizin – fordern und umsetzen»

Neben dem Vorbild und dem Empowerment ist unsere Gesellschaft vor allem aber bei der Veränderung von Strukturen und im Verhaltensdesign gefordert, um gängigen Stereotypen entgegenzuwirken. Kürzlich kam mir das neue Buch von Laura Bates, einer britischen Publizistin und Feministin, in die Hand: «Fix the System – Not the Women», in dem sie anschaulich und kritisch die Schwächen und Vorurteile einer Gesellschaft, die offensichtlich nicht für Frauen geschaffen wurde, darlegt. Wie zuvor schon in «What Works – Gender Equality by Design» von Iris Bohnet, Verhaltensökonomin aus der Schweiz und Professorin für Public Policy in den USA, finde ich darin für mich persönlich hochinteressante Denkansätze und kann beide Bücher sehr empfehlen. Wir, Frauen und Männer, sind aufgefordert, anders herum zu denken! Stereotypen können sich ändern, wenn Bewegung in unsere soziokulturellen Konzepte kommt und wir unsere Rahmenbedingungen und Arbeitsstrukturen verändern. Wir müssen die Wahrnehmung für Fehlansätze in unserer Gesellschaft gemeinsam und m.E. möglichst vorwurfsfrei schulen und pflegen. Wir Medizinerinnen, wir Frauen allgemein, sollen uns nicht bemühen, uns den männlichen Verhaltensweisen und Skills anzunähern, um ein Berufsleben lang erfolgreich arbeitstätig sein und Führungspositionen einnehmen zu können. Es sind Strukturen wie z. B. genügend lang geöffnete Kinderkrippen im Arbeitsumfeld z. B. eines Spitals oder eine geschlechterneutrale Willkommenskultur am Arbeitsplatz, die gewährleistet werden müssen. Wir Ärztinnen sollen uns auch nicht schlecht fühlen und mit dem, in den meisten Fällen, Selbstvorwurf der «Rabenmutter» umgehen müssen, nur weil wir unsere traditionell zugedachten Lebensformen bewusst für Studium und Karriere aufgeben oder zumindest anpassen und im Vergleich mit hergebrachten Mustern damit weniger Bastelnachmittage und Kindergeburtstage gestalten! Väter (oder Grossväter) und Partner beanspruchen vermehrt eine tragende Rolle in der Familiengestaltung, das ist ein Teil des Wandlungsprozesses und sehr gut so!
Um in der Medizin, aber auch allgemein, geeignete Rahmenbedingungen für äquivalente berufliche Karrieren zu fordern und umzusetzen, ist es unerheblich, wenn Frauen und Männer dabei nicht einen zu 100 % deckungsgleichen Ansatz haben. Einer Ärztin werden z. B. eher Attribute wie «caring and lasting» zugeordnet, ein Arzt wird eher mit «short-term and performance-based» in Verbindung gebracht. Somit könnte in Anbetracht der zahlenmässigen Entwicklung des Frauenanteils in der Medizin das Thema «Feminisierung in der Medizin» durchaus auch auf die Formulierung «Feminisierung der Medizin» ausgeweitet werden.
Ein gesellschaftlicher «Normalzustand» ist nie einfach nur Stillstand und auch nicht Endpunkt, und v. a. ist er immer menschengemacht! Im Wort Feminisierung liegt die Bedeutungsnuance des Geschehens – ebenso wie ein «Normalzustand» immer im Fluss ist, auch wenn er der Aktualität stets etwas hinterherhinkt. Feminisierung als Normalisierung! Wir hören aus den Texten der Autorinnen die Freude an Beruf und an Karriere, manchmal auch Bedauern, auf Familie verzichtet zu haben. Hier hat sich glücklicherweise schon viel Positives für uns Ärztinnen getan – aber ist es nicht so, dass auch Ärzte sich hier genauso entwickeln könnten? So gesehen ist die Vision nicht abwegig, dass ganz generell auch Männer aufgrund soziokultureller und persönlicher Entwicklung eines Tages ihre männlichen Stereotypen abschütteln können und, im Sinne des Lebensentwurfs der Ko-Evolution, wie es Prof. Martin Oberholzer in seinem Text in Bezugnahme auf den Autor Jürg Willi schildert, Teilzeitjobs auch für sie etabliert und v. a. gesellschaftlich ohne negative Stigmatisierung sein werden.

Viel Vergnügen und Anregung bei der Lektüre dieser Ausgabe der Synapse!

Dr. med. Christiane Leupold-Gross
Mitglied der Redaktion Synapse