Die Medizin ist bald mehrheitlich in Frauenhand

Die Männer in der Medizin sind zwar immer noch in der Mehrheit, doch die Frauen holen stark auf. In der Ausbildung und auf Assistenzarztstufe liegt ihr Anteil bereits bei über 50 %. Begonnen hat die «Feminisierung in der Medizin» vor rund 150 Jahren, als eine Frau namens Marie Heim-Vögtlin trotz grossem Widerstand Medizin zu studieren begann. Die erste Schweizer Ärztin hatte zahlreiche Hürden zu überwinden, konnte sich aber durchsetzen und damit auch für alle künftigen Frauengenerationen das Tor zur Medizin aufstossen.

Als Marie Heim-Vögtlin 1868 mit 23 Jahren und der nötigen Erlaubnis ihres Vaters an der Universität Zürich als erste Schweizer Studentin ihr Medizinstudium aufnahm, löste sie nicht nur in ihrer Familie, sondern im ganzen Land einen Sturm der Entrüstung aus. Die Öffentlichkeit war davon überzeugt, dass Frauen körperlich
zu schwach – und zu dumm – waren, um ein Studium zu absolvieren. Mit ihrer Entscheidung zu studieren stellte Heim-Vögtlin das damalige traditionelle Rollenbild der Frau radikal in Frage.
Während ihrer Studienzeit hatte sie den späteren Geographieprofessor Albert Heim kennengelernt, den sie 1875 heiratete, ein Jahr nach ihrer Praxiseröffnung 1874. Ihren Beruf gab Marie Heim-Vögtlin nie auf, auch nicht, als nach sieben Ehejahren ihr Sohn Arnold und vier Jahre später ihre Tochter Helene geboren wurden. Dabei versuchte sie, ihre Pflichten als Hausfrau und Mutter und ihr Engagement als Ärztin unter einen Hut zu bringen. Nach heutiger Terminologie war Heim-Vögtlin eine der ersten Frauen, die mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu kämpfen hatte.
Erschwerend kam dazu, dass eine Frau nach damaligem Recht unter der Vormundschaft ihres Ehemannes stand und sein Einverständnis brauchte, wenn sie arbeiten wollte. Ausserdem musste sie ihm den Lohn abliefern. Albert Heim war laut verschiedenen Quellen ein «wohlwollender Patriarch», der seiner Frau nicht nur erlaubte zu arbeiten, sondern ihr auch zugestand, ihr Einkommen zu behalten. Für viele Zeitgenossen waren Marie und Albert Heim ein modernes und erfolgreiches Paar, das ein neues Ehe- und Berufsmodell lebte, was aber offenbar beide auch unter enormen Druck setzte. Denn die Beziehung – und der Berufsalltag – mussten unbedingt gelingen, ein Scheitern hätte in Maries Augen generell das Studium für Frauen diskreditiert.
Die erste Schweizer Ärztin gehörte keiner Bewegung für Frauenrechte an. Doch indem sie für sich selbst das Recht auf Bildung erkämpfte und später bewies, dass Frauen genauso gut wie Männer in der Medizin arbeiten können, wurde sie gleichwohl zum Vorbild und zur Vorkämpferin späterer Frauenrechtsorganisationen.

Die nachfolgenden Pionierinnen
Auf Marie Heim-Vögtlin folgte Caroline Farner, die als zweite Schweizer Ärztin promovierte. Immer mehr Frauen begannen, Medizin zu studieren. Zu den bekanntesten Schweizer Studentinnen des 19. Jahrhunderts gehörten u. a. Elisa-
beth Flühmann, Meta von Salis, Emilie Kempin-Spyri und Anna Heer, die Gründerin der Schweizerischen Pflegerinnenschule. Anna Heer war eine knappe Generation jünger als Marie Heim-Vögtlin und ging einen Schritt weiter. Sie wählte die Fachrichtung Chirurgie, eine medizinische Spezialität, die bis weit ins 20. Jahrhundert als typische Männerdomäne galt. Mit der Gründung eines eigenen Spitals wagte sie sich zudem noch weiter vor in eine Welt, die bis dahin ausschliesslich den Männern vorbehalten war.

Frauenanteil stagniert bis Mitte des 20. Jahrhunderts
Nach Ansicht der meisten Schweizer Medizinhistoriker ist die Geschichte der Frauen in der Medizin in der 1. Hälfte des 20.Jahrhunderts wenig erforscht und kaum aufgearbeitet. Gleich wohl existieren Zahlen und Statistiken, die besagen, dass sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Zahl der Frauen in der Medizin kaum veränderte. Im Jahr 1950 stellten Frauen 12 Prozent der Gesamtärzteschaft, ein Anteil, der sich bis 1960 kaum veränderte und anschliessend nur sehr langsam wuchs.
In den 1970er-Jahren kam Bewegung in die bis dahin lineare Entwicklung des Frauenanteils in der Medizin. Das hatte einerseits mit dem breiten gesamtgesellschaftlichen Wandel und Paradigmenwechsel zugunsten der Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen zu tun, der in der Annahme des Frauenstimmrechts 1971 mündete. Anderseits wurde die Medizin für Frauen immer attraktiver, weil sich immer mehr Fächer den Frauen öffneten. In der Chirurgie etwa lag im Jahr 2000 der Anteil der Fachärztinnen noch bei 5 %, 2018 betrug er bereits 23 %. Das blieb auf die gesamte Medizin bezogen nicht ohne Folgen: 1980 stieg der Anteil Frauen in der Medizin auf 18 Prozent, 1990 auf 22 Prozent.
Als 1998 der Numerus clausus in der Medizin eingeführt wird, stellt sich heraus, dass das ein Vorteil für die Frauen ist, da sich Frauen nachgewiesenermassen besser auf Prüfungen und Tests vorbereiten und offenbar die fleissigeren Studierenden sind.

Bernhard Stricker

Redaktor Synapse

Frauen Männer Total
Anzahl % Anzahl % Anzahl %
Praxissektor 8902 42,5 12’028 57,5 20’930 53,4
Spitalsektor 8471 47,9 9212 52,1 17’683 45,1
Anderer Sektor* 226 37,1 383 62,9 609 1,5

* Tätigkeiten jener Ärztinnen und Ärzte, die weder zum Praxis- noch zum Spitalsektor gehören, zum Beispiel im Rahmen einer Anstellung bei Versicherungen, in der öffentlichen Verwaltung (eidgenössisch/kantonal) oder in der Industrie.

Tabelle 1.
Übersicht der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte nach Geschlecht und Sektor (Hauptberufstätigkeit) 2021

Frauen Männer Total % Frauen % Männer
Kinder- und Jugendpsychiatrie 483 240 723 66,8 33,2
Gynäkologie und Geburtshilfe 1318 668 1986 66,4 33,6
Kinder- und Jugendmedizin 1375 714 2089 65,8 34,2
Medizinische Genetik 20 11 31 64,5 35,5
Rechtsmedizin 35 5 60 58,3 41,7

Tabelle 2.
Fächer mit dem höchsten Frauenanteil

Aktuelle Situation
Gemäss FMH waren im Jahr 2021 in der Schweiz 39’222 Ärztinnen und Ärzte berufstätig (siehe Tabelle 1). Mit 55,1 Prozent sind die Männer gegenüber 44,9 Prozent Frauen zwar weiterhin in der Mehrheit, doch der Abstand zwischen den Geschlechtern verkleinert sich stetig. Der Anteil der berufstätigen Ärztinnen ist im Vergleich zum Vorjahr um 1,9 Prozent gestiegen.

Bei den Assistenzärztinnen und -ärzten überwiegt der Frauenanteil mit 59,5 Prozent bereits deutlich, auf Oberarztstufe liegt er bei 49,8 Prozent, bei der leitenden Ärzteschaft bei 29,5 Prozent und auf Chefarztebene bei 15,3 Prozent.

Den höchsten Frauenanteil verzeichnen die Fachrichtungen Kinder- und Jugendmedizin (66,8 Prozent), Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (66,4 Prozent) und Gynäkologie und Geburtshilfe (65,8 Prozent). (Tabelle 2)

Die Männer sind im Vergleich zu den Frauen in den chirurgischen Fachgebieten in der Mehrheit (Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 92,3 Prozent, Thoraxchirurgie 90,9 Prozent, Orthopädische Chirurgie 86,6 Prozent).

In Ausbildung befanden sich im Studienjahr 2020/2021 in der Humanmedizin im Bachelorstudiengang 5649 Studierende (1997 Männer, 3652 Frauen) im Masterstudiengang waren es 3656 Studierende (1451 Männer, 2205 Frauen). Im Jahr 2021 haben 1118 Ärztinnen und Ärzte das eidgenössische Diplom in Humanmedizin erhalten, davon 666 Frauen und 452 Männer. (Tabelle 3)

Das Arbeitspensum der gesamten Ärzteschaft betrug 2021 durchschnittlich 8,7 Halbtage pro Woche (1 Halbtag = durchschnittlich 5.5 Std.), was einer Wochenarbeitszeit von rund 48 Stunden entspricht. Dabei liegt das durchschnittliche Arbeitspensum der Frauen etwas tiefer (Praxis: 6,9, Spital: 8,9 Halbtage) als jenes ihrer männlichen Kollegen (Praxis: 8,7; Spital: 10,0 Halbtage).

Junge Ärztinnen und Ärzte – insbesondere die Frauen im Praxissektor – haben inzwischen dazu beigetragen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie heute ein anerkanntes Thema in der Medizin geworden ist. Ärztliche Teilzeitpensen sind gemäss FMH heute keine Gender-, sondern eine Generationenfrage.

Hingegen scheint die Frage des Einkommens nach wie vor vom Geschlecht abzuhängen. Die FMH schreibt dazu auf Anfrage der Synapse-Redaktion: «Das Bundesamt für Statistik (BFS) erhebt Strukturdaten der Arztpraxen und ambulanten Zentren (Medical Ambulatory Structure). Gemäss dieser Statistik besteht im Jahr 2019 eine auffällige Lohndifferenz, die wir in der Analyse nicht erklären konnten: ‹Zwischen Männern und Frauen lässt sich ein Einkommensunterschied beobachten. Bei sonst gleichen Bedingungen erzielten die selbstständigen Ärzte im Durchschnitt ein um 25 % höheres Einkommen als die Ärztinnen.› Diese Ergebnisse gelten jedoch ausschliesslich für selbstständigerwerbende Ärzte und Ärztinnen.»
Bernhard Stricker, Redaktor Synapse

Quellen
• Verena E. Müller: Marie Heim-Vögtlin – Die erste Schweizer Ärztin, Hier + Jetzt, 2007
• Heidi Thomann-Tewarson: Die ersten Zürcher Ärztinnen, Schwabe Verlag, 2018
• Zahlen, Statistiken und Tabellen: FMH-Ärztestatistik und BAG (Tabelle 3)

Tabelle 3.
Bildungsabschlüsse Humanmedizin
(Quelle BAG)