Mut zur «Offensive» – für eine patientenorientierte Medizin

Ein Klima des Misstrauens sowie Machtgelüste, die einen ausgebauten Kontrollapparat bedingen, beschädigen zunehmend das gemäss OECD-Erhebungen
bisher patientenfreundlichste Gesundheitswesen. Von staatlich-administrativer Seite wurden Metasysteme ohne Patientennutzen geschaffen oder deren Errichtung durch Dritte gefördert. Diese Metasysteme absorbieren viele Pflegekräfte, medizinische Praxisfachpersonen und Ärztinnen und Ärzte von der klinischen Front, wo sie dringend benötigt werden. An einem Schreibtisch zu sitzen, gut bezahlt von der Krankenkasse, notabene mit Prämiengeldern, oder im
Administrativbereich eines Spitals oder Pflegeheims ist einfacher, als sich die Sorgen und Nöte der Menschen anzuhören, chronische Wunden zu pflegen, zur Unzeit nachts zu operieren oder sich einem Infektionsrisiko auszusetzen.

«Wir haben bald mehr Controller und Datenerfasser als Pflegende und Ärztinnen und Ärzte mit Patientenkontakt.»

Wir haben bald mehr Controller und Datenerfasser in der Pflege und im ärztlichen Bereich, insbesondere im stationären Setting, als Pflegende und Ärztinnen und Ärzte, die noch direkten Patientenkontakt haben. Die Patientinnen und Patienten müssen sich dann eben gedulden, bis eine der wenigen Qualifizierten Zeit hat, sich um sie zu kümmern. Der Mangel an qualifiziertem Personal in den Pflegeheimen führt zu Mehrarbeit in den Hausarztpraxen.

Patientensicherheit gefährdet
In der Hausarztpraxis häufen sich die Berichte und Klagen von Patientinnen und Patienten über abnehmende Pflegequalität in Spitälern und Pflegeheimen. Dies ist nicht als Vorwurf an die Pflegenden gemeint, sondern als Vorwurf an den KUV-Bereich des BAG und die Krankenkassen, die für diese Misere in erster Linie verantwortlich sind. Sie haben die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass das Gesundheitswesen teurer, ineffizient und patientenfeindlich wird. Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass immer mehr Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und medizinische Praxisfachpersonen den Beruf, insbesondere die patientenzentrierte Tätigkeit, frustriert aufgeben. Sie sind verantwortlich dafür – dies bezeugt ein neuer Verordnungsentwurf, der das Parlament umgeht –, dass die Versorgungssicherheit mit Impfstoffen und Medikamenten weiter abnimmt. Sie sind somit auch verantwortlich für eine Gefährdung der Patientensicherheit respektive dafür, dass wir diese nur noch mit deutlichem Mehraufwand halten können.

«Probleme kann man nicht lösen, wenn man keine Ahnung von der Arbeit an der Front hat.»

Eine Expertengruppe einzuberufen und einen Bericht zur Versorgung in Auftrag zu geben und gleichzeitig auf Stufe Gesetzgebung im Stillen genau das Gegenteil voranzutreiben, ist heuchlerisch. Natürlich gibt es gewisse Probleme. Diese kann man jedoch nicht lösen, wenn man einen sehr skotomisierten Blick und von der Arbeit an der Front keine Ahnung hat und obendrein vorhandene Daten falsch interpretiert. Zudem erschweren Behörden und Versicherer vielen engagierten Berufsleuten die sowieso schon herausfordernde tägliche Arbeit noch zusätzlich mit alltagsfernen Regulationen und Auflagen. Diese haben keinen Nutzen für die Patientinnen und Patienten und machen das Gesundheitswesen teurer und ineffizienter. Viele Patientinnen und Patienten können in Praxen, Heimen und Spitälern nicht versorgt werden, weil Papierarbeit priorisiert werden muss.
Zurzeit besteht eine galoppierende Regulationswut. Es folgen Gesetze und Verordnungen Schlag auf Schlag. Diese sind von solch mangelhafter Qualität, dass das Parlament schon kurze Zeit später Revisionen anstossen muss; die Zulassungsvoraussetzungen lassen grüssen.

Wir haben ein Kostenverteilungsproblem, kein Kostensteigerungsproblem
Der Bund reguliert am Laufmeter, und zwar unter dem Vorwand einer Kostenexplosion, die gar nicht existiert, geschweige denn droht. Wir verstehen
natürlich, dass eine Vier-Jahres-Legislaturperiode die Politik oft dazu verleitet, kurzfristig und nicht nachhaltig zu denken und zuweilen effekthascherisch und manchmal panikartig zu handeln. Das System ist anfällig für einen gewissen Populismus, gleich welcher Herkunft. In unserem Gesundheitswesen gibt es
eine langsame Kostenzunahme, aber eine deutlichere Prämienzunahme, da Leistungen vom stationären in den ambulanten Bereich verschoben wurden. Wir haben ein Kostenverteilungsproblem, bei einem vorbestehenden hohen «out of pocket»-Finanzierungsanteil, aber kein Kostensteigerungsproblem. Das Einzige, was gerade gegenwärtig explodiert, sind die Energiekosten in gewissen Spitälern.

«Wir haben ein Kostenverteilungsproblem und kein Kostensteigerungsproblem.»

Wenn ein Globalbudget bereits bestünde (wie der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesrat vorschlägt), hiesse dies: massive Lohnkürzungen für alle Pflegenden und Ärztinnen und Ärzte. Ein gleicher Mechanismus käme bei den Medizinalprodukten zum Tragen: Wir werden in den nächsten Jahren nur noch eine kleinere Auswahl und zu höheren Preisen zur Verfügung haben. Also auch hier Lohnkürzungen in erster Linie für das Spitalpersonal. Zudem hat das BAG mit einer Verordnung den Einsatz von Einwegmaterial massiv gefördert, was diese Situation zusätzlich verschärft, abgesehen davon, dass das BAG zwar eine Konferenz zum Klimawandel veranstaltet, mit gewissen Verordnungen diesem aber massiv Vorschub leistet. Wie wäre es mit einer Regulationsfolgenabschätzung? Aber bitte nicht
nur von Juristen, Ökonomen, Politik- und Sozialwissenschaftlern, die an ihrem Schreibtisch noch nie einem Patienten gegenübersassen und noch nie Einweg-Wegwerf-Operationsbesteck minderer Qualität in den Händen hatten. Der Einbezug der Personen, die sich täglich um die Patientinnen und Patienten kümmern, ist zwingend für die Validierung der allenfalls noch gut gemeinten, aber in Realität schädlichen Regulationen.

Schwerwiegende Folgen einer verfehlten Gesundheitspolitik
Gegenwärtig behandeln alle Grundversorgerpraxen durchschnittlich 100 neue
Patientinnen und Patienten mehr (Erstkonsultationen) zu durchschnittlich 3%
tieferen Kosten. Die aktuellen Rahmenbedingungen und zahlreiche neue Auflagen führen dazu, dass ältere, erfahrene
Kolleginnen und Kollegen ihre Praxistätigkeit häufiger unmittelbar nach Erreichen des AHV-Alters einstellen, ohne
Nachfolger zu finden. Viele Arztpraxen sehen sich bereits heute zu einem Patientenaufnahmestopp gezwungen, auch bedingt durch die aktuellen gesundheitspolitischen Regulationen und den administrativen Mehraufwand. Die überzähligen Patientinnen und Patienten suchen vermehrt die Notfallstationen der Spitäler auf – mit entsprechender Kostenfolge. Die aktuelle nationale Gesundheitspolitik vernichtet jegliche Attraktivität pflegerischer oder ärztlicher Tätigkeit mit Patientinnen und Patienten. Die Kantone, welche die Gesundheitsversorgung sicherstellen müssen, müssen dies ausbaden.

«Aus Personalmangel 10% weniger zertifizierte Intensivbetten als vor der Pandemie.»

Sie werden bald niemanden mehr finden, zuerst in der Grundversorgung und hernach in gewissen Spezialgebieten, der sich unter den zukünftigen Rahmenbedingungen um Patientinnen und Patienten kümmert. Im Spitalbereich gibt es heute aus Personalgründen 10% weniger zertifizierte Intensivbetten als vor der Pandemie. Gewisse Spitäler schliessen zeitweise 20 bis 30% der Betten infolge Personalmangels.
Eine Grippewelle diesen Winter müsste bei dieser Ausgangslage gebrochen werden. Das würde heissen: Möglichst viele Personen in der Bevölkerung, insbesondere im Gesundheitswesen, müssten sich gegen Grippe impfen lassen. Die Politik müsste den Mut haben, eine Empfehlung für das Tragen von Masken im öffentlichen Verkehr und, je nach epidemiologischer Lage, an weiteren Orten auszusprechen.
Für Arztpraxen und Spitäler werden wir dies wie bisher, wissenschaftlich fundiert, selber tun, sobald die epidemiologische Lage es erfordert. Der Beweis, dass diese beiden Massnahmen erfolgreich sind, wurde die letzten zwei Winter übrigens geführt.

Dr. med. Carlos Quinto,
Mitglied ZV FMH und der Redaktion Synapse

Dr. med. Carlos Quinto

Mitglied ZV FMH und der Redaktion Synapse