Wer plant schon Rationierung?
Die Energiekrise und Erfahrungen anderer Länder zeigen uns, wie wichtig Versorgungssicherheit ist – und dass Rationierungen niemals geplant werden. Die Schweizer Gesundheitspolitik sollte darum die möglichen Auswirkungen neuer Gesetze gewissenhaft prüfen.
Wenn es in diesem Jahr auf den Winter zugeht, lassen sich Dinge beobachten, die noch vor Kurzem kaum jemand für möglich gehalten hätte: Die Schweizer decken sich mit Brennholz und Kerzen, mit Pellets und Benzinkanistern, mit Elektroöfen, Heizdecken und Stromgeneratoren ein. 1Trotz umfangreicher «Energiestrategie 2050», trotz offiziellen Risikoanalysen2, amtlichen Berichten und einem ausführlichen Monitoring mit 45 Indikatoren3 – auch zur Versorgungssicherheit – drohen uns im kommenden Winter Rationierungen von Strom und Gas. Geplant war das nicht.
«Trotz umfangreichen Berichten und Strategien drohen Versorgungsengpässe.»
Auch im Gesundheitswesen zeigt sich die Realität mitunter von politischen Plänen unbeeindruckt. Ein trauriges Beispiel dafür sind aktuell Millionen Menschen ohne zahnmedizinische Versorgung in Grossbritannien. Dass der staatliche Gesundheitsdienst NHS eigentlich Erwachsene gegen Zuzahlung und Kinder sogar
gratis behandeln sollte, bleibt für diese Menschen reine Theorie4. Durch die politischen Zielvorgaben an Zahnärzte zum Behandlungsumfang sind Zahnbehandlungen unterfinanziert5. Zahnärztinnen und Zahnärzte zahlen bei Behandlungen von NHS-Patienten drauf5. Die Folge: Es gibt immer weniger Zahnärzte und kaum noch Praxen, die neue Patienten aufnehmen. Wer einen Termin braucht, aber nicht privat bezahlen kann, zieht sich die Zähne mitunter selbst4. Auch dies hat sicher niemand gewollt oder geplant.
Es geht um Auswirkungen, nicht Absichten
Entscheidend ist also nicht unbedingt, welche Absicht hinter einer Gesetzesvorlage steckt, sondern vor allem, welche Auswirkungen Gesetze in der Realität haben. Dass unser Gesundheitsminister keine Rationierung möchte, sondern allen die medizinische Behandlung wünscht, die sie brauchen6 , bietet leider keinen Schutz vor Unterversorgung und Rationierung. Denn der Weg von einer guten Absicht zu einem guten Gesetz ist lang – und nicht immer erfolgreich.
Unterfinanzierung folgt Unterversorgung
Die Auswirkungen eines Gesetzes in der Praxis sind nicht immer leicht abzuschätzen. Besonders unterschätzt werden vor allem die möglichen Folgen gesetzlicher Eingriffe in die Vergütung medizinischer Leistungen und Tarifgestaltung. Dies zeigen nicht nur die britischen Zahnärzte, die weder für
einfache Füllungen noch für komplexe Behandlungen eine sachgerechte Vergütung erwarten dürfen5. Auch die praxisambulanten Ärzte in Deutschland vergeben zum Ende jedes Quartals aufgrund der politisch forcierten Unterfinanzierung weniger Termine – und die Patienten weichen in die Notaufnahmen aus7. Weil die unzureichende Vergütung in Deutschland dazu führte, dass neue Patienten «monatelang auf einen Arzttermin warten» mussten8 ,beschloss der Bundestag 2019, die Behandlung von Neupatienten fortan ohne die politisch vorgegebenen mengenabhängigen Abschläge zu vergüten. Heute möchte man diese Massnahme wieder einsparen, ein erneut reduziertes Terminangebot ist absehbar9. Ein unterfinanziertes Gesundheitswesen ist wie ein Auto mit zu wenig Sprit: Es bleibt irgendwann stehen.
Kompromiss gelungen
Die schädlichen Auswirkungen, die eine politisch gesteuerte Vergütung der medizinischen Versorgung haben kann, sind von der FMH in den letzten Jahren immer wieder thematisiert worden. Im Fokus stand dabei zumeist der im ersten Kostendämpfungspaket geplante Artikel 47c KVG, der die Tarifpartner zur Kostensteuerung gemäss behördlichen Vorgaben verpflichten sollte10. Glücklicherweise gelang hier jedoch in der Herbstsession ein Kompromiss, der die Gefahr für die Patientenversorgung abwenden konnte. Durch die Streichung verschiedener Absätze (5 und 7–9) der Version des Nationalrats kann der Artikel 47c KVG, wie er nun verabschiedet wurde, nicht mehr zur Durchsetzung politischer Budgetvorgaben genutzt werden. Durch die alleinige Kompetenz der Tarifpartner über Kostenmonitoring und Korrekturmassnahmen ohne die zuvor geplanten subsidiären Kompetenzen der Behörden ist die Gefahr einer politisch verordneten Unterfinanzierung und damit auch das Risiko für die Patientenversorgung vorläufig gebannt.
«Die nächsten Verordnungen, die eine politisch gesteuerte Versorgung anstreben, sind schon im Parlament.»
Doch die nächsten Vorlagen, die eine politisch gesteuerte Vergütung der medizinischen Versorgung anstreben, sind bereits im Parlament. Die KostenbremseInitiative der Mitte-Partei hat der Nationalrat zwar nach den Warnungen des Bundesrats vor einer Rationierung11 als Gefahr für unser Gesundheitswesen deutlich abgelehnt12. Gleichzeitig hielt der Nationalrat jedoch am Prinzip der Kostenvorgaben fest, indem er mit einer knappen Mehrheit durch die Stimmen der SP, der Grünen und der Mitte-Partei einen Gegenvorschlag mit Kosten- und Qualitätszielen befürwortete. In der aktuellen Fassung sollen Überschreitungen der politischen Kostenziele jedoch nicht mehr politisch motivierte Tarifkürzungen nach sich ziehen können. Dies wäre ein wichtiges Detail zur Vermeidung politisch verordneter Unterfinanzierung. Ob es dabei bleibt, ist aktuell jedoch offen. So wurden nach dem Kompromiss zum Artikel 47c bereits Stimmen laut, dass man nun eine schärfere politische Kostensteuerung in anderen Gesetzesvorlagen einbetten wolle.
Hier entfernt – dort wieder eingefügt?
Auch wenn das Parlament beim Artikel 47c KVG und bei den Kosten- und Qualitätszielen nach Art. 54 KVG bislang vermieden hat, dass politisch gesteuerte Tarife neben viel Administration auch Unterfinanzierung und damit Unterversorgung verursachen, behandelt es noch weitere Vorlagen, die ebendies befürchten lassen. So sieht der bundesrätliche Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative die Möglichkeit vor, dass Genehmigungsbehörden zukünftig jederzeit Tarifanpassungen einfordern und nach einem Jahr selbst festsetzen können (Art. 46a). Auf Wunsch des Nationalrats sollen sie sogar nach Positionen oder Gruppen «differenzierte Tarife» erlassen können. Damit würden zentrale Grundsätze des Tarifrechts wie Sachgerechtigkeit und Betriebswirtschaftlichkeit verletzt – und politisch motivierte Tarifeingriffe möglich.
Wirksame Mittel gegen die Prämienlast …
Gerade die aktuellen Prämiensteigerungen verdeutlichen, dass es nicht irgendwelche Massnahmen, sondern eine wirksame Prämien- und Kostendämpfung braucht. Dabei ist zunächst einmal wichtig, anzuerkennen, dass die Prämien stärker steigen als die Kosten13, und auf Basis differenzierter Analysen zur Prämienlast14 und -entwicklung15, 16zielgerichtete Massnahmen zu ergreifen. Die von der FMH nachdrücklich unterstützte Finanzierungsreform EFAS könnte nicht nur die Kosten dämpfen, sondern auch die Prämienzahlenden deutlich entlasten17. Auch der von uns vorgelegte Tardoc könnte die Prämienentwicklung dämpfen18 – vorausgesetzt, seine Genehmigung durch den Bundesrat folgt zeitnah.
… statt Übernahme untauglicher Rezepte
Die vor allem von Deutschland inspirierten Rezepte zur politischen Kostensteuerung dürften jedoch keine Entlastung bringen: Die Deutschen erwartet im kommenden Jahr eine «Anhebung der Krankenkassenbeiträge auf eine Rekordhöhe von durchschnittlich 16,2 Prozent des Bruttolohns»19 womit die Sozialbeiträge in Deutschland auf insgesamt 40,45% steigen. Ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt gibt aktuell mit 7% sehr viel weniger Geld für die Krankenkassenprämien aus, selbst wenn man die privat getragenen Gesundheitsausgaben (2,6%) hinzurechnet20. Auch gegen unnötige Leistungen helfen die politischen Kostenvorgaben in Deutschland nicht – im Gegenteil gibt es dort deutlich mehr Über- und Unterversorgung als in der Schweiz21.
«Die von der FMH unterstützte Finanzierungsreform EFAS würde Kosten dämpfen und Prämienzahlende entlasten.»
Nur gute Lösungen sind echte Lösungen
Das Ziel möglichst niedriger Prämien bei einer trotzdem sehr guten Gesundheitsversorgung ist uns allen gemeinsam – die Frage ist, ob die vorliegenden Gesetzesentwürfe dazu beitragen können. Denn wenn aus der guten Absicht kein gutes Gesetz wird und Gesetzesvorlagen nicht gewissenhaft auf ihr Nutzen- und ihr Schadenspotenzial geprüft werden, könnte auch die Schweizer Gesundheitsversorgung zukünftig bislang unbekannte Probleme erleben – die sich nicht mit Brennholz lösen lassen.
Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin FMH
(Dieser Text ist eine Aktualisierung des Kommentars von Dr. Yvonne Gilli in der Schweizerischen Ärztezeitung Nr. 36 vom 7. September 2022)
Literatur
1 NZZ, 10.8.22; Die Zürcher horten wieder: Sind Brennholz und Kerzen das neue WC-Papier? URL: https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-nachfragenach-brennholz-und-kerzen-steigt-ld.1697124
2 Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) (2020): Welche Risiken gefährden die Schweiz? Katastrophen und Notlagen Schweiz 2020. BABS, Bern;
URL: https://www.babs.admin.ch/de/aufgabenbabs/gefaehrdrisiken/natgefaehrdanalyse.html
3 Bundesamt für Energie BFE; Medienmitteilung vom 15.12.2021; Energiestrategie 2050 erreicht erste Wegmarke – weitere Schritte nötig.
URL: https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/newsund-medien/medienmitteilungen/mm-test.msg-id-86471.html
4 Alexander Mühlauer in der Sonntagszeitung, 21.8.2022. Britin zieht sich selber 13 Zähne, weil sie keinen Zahnarzt fand.
5 Denis Campbell in The Guardian vom 1.5.2022; Dental deserts’ form in England as dentists quit NHS, experts warn;
URL: https://www.theguardian.com/society/2022/may/01/dental-deserts-formin-england-as-dentists-quit-nhs-experts-warn
6 Renz F, Brotschi M. Interview mit Alain Berset. Herr Bundesrat, sind Sie nach zehn Jahren im Amt frustriert? Publiziert im Tagesanzeiger vom 20.8.2022;
URL: https://www.tagesanzeiger.ch/wir-werden-die-renten-bald-nach-obenanpassen-556960978942
7 Himmel K, Schneider U (2017) Ambulatory Care at the End of a Billing Period. Research Paper, No: 14; Hamburg Center for Health Economics
8 Aussage Karl Lauterbachs im Bundestag zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), 14. März 2019;
URL: https://www.bundestag.de/ dokumente/textarchiv/2019/kw11-de-tsvg-595172
9Medienmitteilung der kassenärztlichen Bundesvereinigung vom 27. Juli 2022. «Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten»;
URL: https://www.kbv.de/html/2022_59232.php
10 EDI/BAG, 29.3.2018. Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OK): Erste Massnahmen, die geprüft werden.
11Medienmitteilung des Bundesrates vom 10.11. 2021; Bundesrat lehnt Kostenbremse-Initiative ab und verabschiedet Gegenvorschlag.
URL: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20210067
12SDA-Meldung; Debatte im Nationalrat, 1.6.2022; Gesundheitskosten – Nationalrat will Prämienanstieg mit Kostenzielen bremsen;
URL: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20210067
13Wille N, Gilli Y. Die Prämien steigen stärker als die Kosten. Warum wir dringend zwischen Prämien und Kosten unterscheiden müssen. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2122):702-704;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20811
14Wille N, Gilli Y. Wie stark werden Haushaltsbudgets durch die Prämien belastet? Aussagen zu den Krankenkassenprämien im Faktencheck. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2930):929-931;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20922
15Wille N, Gilli Y. Wie stark steigen die Krankenkassenprämien? Aussagen zur Prämienentwicklung im Faktencheck. Schweiz Ärzteztg. 2022;103 (3132):966-968;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20944
16Wille N, Gilli Y. Wie beeinflusst die Prämienentwicklung die verfügbaren Einkommen? Aussagen zur Belastung der Einkommen im Faktencheck. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1070-1072;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21009
17Wille N, Gilli Y. Kosten dämpfen – Prämien entlasten. Die wichtigste Reform unseres Gesundheitswesens. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2930): 932-935;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20923
18Schweizer C. TARDOC: ein unverzichtbarer Beitrag für eine nachhaltige Kostendämpfung «Vom TARDOC profitieren Patienten und Prämienzahlende»; Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3132):969-972;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20943
18Ntv-Meldung vom 29.7.22; «Haben ein sehr großes Defizit» – Regierung hebt Krankenkassenbeitrag auf Rekordhöhe;
URL: https://www.n-tv.de/
20Bundesamt für Statistik, Haushaltsbudgeterhebung (HABE); Haushaltsbudgeterhebung, 2015–2017, 2018 und 2019, Tabelle mit BFS-Nummer T20.02.01.02.01, veröffentlicht am 23.11.2021;
URL: https://www.bfs.admin.ch/
21Wille N, Gilli Y. Wie gelingt Kostendämpfung ohne Versorgungseinbussen? Qualität stärken statt Quantität steuern – Teil 1. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(36):30-32;
URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21010