«Wir haben die Zerreissprobe irgendwie überstanden»

Im Folgenden geht es nicht um eine kritische Beleuchtung. Dies sollten alle die in Auftrag gegebenen Evaluationsberichte leisten können und deren ­adäquate mediale Zitierung. Für Public Health und Epidemiologie wurde ich gerade schon zu Beginn des Medizinstudiums in den 80er-Jahren sensibilisiert. Es verstarben junge Menschen an seltenen Infektionskrankheiten und Tumorerkrankungen. Eine spezielle Stimmung, auch Angst war greifbar. Wir Medizinstudenten wurden direkt durch den Kantonsarzt informiert in Vorlesungen, ausser Plan. Aus unserem familiären und sozialen Umfeld wurden wir mit Fragen geflutet, deren ­Beantwortung in jedem Fall eine Herausforderung und nicht selten eine Überforderung war. Die Erkenntnis, dass ärztliche Aufgaben, schneller als einem lieb ist, immer eine soziale und poli­tische Dimension aufweisen, insbesondere sobald es um Gesundheit auf Bevölkerungsebene geht, weckte, neben dem für die klinische, Individuum-zentrierte Medizin (Kliné; Klinik: Liege, Krankenbett; Heilkunst für bettlägerige Kranke), mein Interesse für Epidemiologie («die Lehre von dem, was über das Volk kommt») und Public Health. Die Konfrontation mit HIV und AIDS hinterliessen Spuren in meinem medizinischen beruflichen Werdegang.

Bei einem Spagat – oder dem Versuch dazu – ist dem Ausführenden sprichwörtlich die Spannung anzu­sehen, insbesondere je weniger man trainiert ist, ­einen solchen professionell auszuführen. Spannungsfelder gab und gibt es immer noch, einige wurden während der Pandemie sehr deutlich. Die COVID-­Pandemie maskierte und demaskierte. Bevölkerungsbasierte Medizin versus (vs) personenzentrierte ­Medizin, wissenschaftliche vs politische Kommuni­kation, Bund vs Kantone, Gesundheitsdepartemente vs andere Departemente (national und kantonal), ­Öffentliche Gesundheit vs KUV (im BAG), Datenschutz vs Surveillance, strategische vs operative Ebene, Vorhalteleistungen vs Reservenabbau …

Wir haben die Zerreissprobe irgendwie überstanden. Die zusätzliche Arbeitslast durch die Pandemie im Zentralvorstand der FMH und insbesondere im Departement Public Health und Gesundheitsberufe der FMH war erheblich. Kontakte mit den medizinischen Fachgesellschaften, dem BAG, EKIF, KSD, swissmedic, swissnoso, Universitäten, ETH, EPFL, Swiss TPH, Kantonsärztinnen und -ärzten, Mitgliedern der wissenschaftlichen Taskforce, mit kantonalen Ärztegesellschaften sowie Ärzteverbänden und Wissenschaft-
lern auf internationaler Ebene waren erforderlich und zu pflegen. Diese Aufzählung ist nicht vollständig!
In einer neuen Situation – die letzte vergleichbare lag knapp über 100 Jahre zurück (direkte biographische Erfahrungen mit der «spanischen» Grippe konnte kein Verantwortungsträger aufweisen) – ist es ­unausweichlich, dass nicht alles perfekt läuft und dass Fehler gemacht werden. Die Notwendigkeit
zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu ­erkennen. Die Kunst, aus nicht perfekten Daten vernünftige Schlussfolgerungen zu ziehen, ist gefragt. Dazu genügt es nicht, allein zu wissen, Erfahrung und Mut sind gefragt. Hin- und Herschieben «heisser ­Kartoffeln» ist nicht zielführend. Eine Grundlage für Erfolge in Baselland, respektive in der Region, war die schnell etablierte Zusammenarbeit zwischen kantonaler Verwaltung, der kantonalen Ärztegesellschaft und den ausgezeichneten wissenschaftlichen Institutionen (über Kantonsgrenzen hinweg!), über welche wir in der Region verfügen. Begeistert haben mich alle, die es geschafft haben, für und mit der Bevölkerung, für und mit den Patientinnen und Patienten und für und mit allen Gesundheits- und Medizinal­berufen konstruktiv und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Dünkel und Misstrauenskultur waren weggeblasen. Es wurde versucht, den administra­tiven Aufwand klein zu halten und sachbezogen zu arbeiten. Es wurde nicht nur formell, sondern auch ­direkt informell kommuniziert. Es geht nun darum, das Positive zu bewahren und aus den Fehlern, mit ­einer adäquaten Fehlerkultur, zu lernen.

Ein grosses Dankeschön an alle Medizinal- und Gesundheitsberufe, die Studentinnen und Studenten miteingeschlossen, die in ­Spitälern, Alters- und ­Pflegeheimen, Arztpraxen und Apotheken, in kan­tonalen Test- und Impfzentren, im BAG, in den ­kantonsärztlichen Diensten sehr viel geleistet und versucht haben, Unzulänglichkeiten nach ihren ­Möglichkeiten für die Menschen in unserem Land zu minimieren. Allen, die Leid erfahren haben, in welcher Form auch immer (Verlust von Angehörigen, Krankheit mit bleibenden Folgen, psychisch, existentielle wirtschaftliche Einbussen …), wünsche ich gute Besserung.

Dr. med. Carlos Quinto

Mitglied ZV FMH und der Redaktion Synapse