Umfrage: Sexuelle Belästigung von Ärztinnen offenbar weit verbreitet

Im Dezember 2021 führten das Recherchedesk und das Datenteam von Tamedia eine anonyme Umfrage zum Thema «Sexuelle Belästigung» bei Ärztinnen und Ärzten in allen Landesteilen der Schweiz durch. Insgesamt haben 605 Ärztinnen und 35 Ärzte den Fragebogen ausgefüllt. Über 40 Frauen haben in der Umfrage zudem ihre Kontaktdaten hinterlassen, sodass die Journalistinnen und Journalisten der Tamedia persönliche Gespräche mit den Ärztinnen führen konnte. Die Umfrage ist nicht repräsentativ.

Hier ein Auszug der wichtigsten Ergebnisse in einer Zusammenfassung:

Mehr als die Hälfte der belästigten Ärztinnen berichtet von Vorfällen, die über verbale Belästigungen hinausgehen. Am häufigsten berichten die Ärztinnen von anzüglichen Bemerkungen über Aus­sehen oder Kleidung, von schlüpfrigen Witzen über sexuelle Merkmale oder sexuelles Verhalten. Fast 200 Teilnehmerinnen haben solche Erfahrungen ­gemacht.
141 Ärztinnen schildern neben den ver­balen Belästigungen auch viel weiter­gehende Ereignisse. So etwa körperliche Übergriffe – am Operationstisch, im Büro, beim Rapport. Sie erzählen von unerwünschten Berührungen, ungewollten Küssen, wie Männer ihren Penis an sie gedrückt, ihren Nacken gestreichelt oder ihnen «das Gesäss getätschelt» haben.
«Das schlimmste Ereignis war der körperliche Versuch, mit mir zu schlafen», schreibt eine Ärztin. Sie sei Mitte 20 gewesen, der Täter ihr Vorgesetzter. Heute arbeite sie als leitende Ärztin an einem Kantonsspital und werde von jüngeren Ärztinnen in ähnlichen Fällen um Hilfe gebeten. «Es wurde mir von blöden ­Sprüchen bis hin zur Vergewaltigung ­alles berichtet», schreibt sie. Die Folgen des Übergriffs auf sie selbst würden Jahrzehnte lang anhalten – bis heute: «Im Nachtdienst habe ich Angst im Spital und trage häufig Pfefferspray auf mir.»
Die Frage, wer sie belästigt habe, wird von 247 Ärztinnen beantwortet, zwei Drittel von ihnen nennen Vorgesetzte als Urheber.
Auf die Frage, in welcher Funktion sie ­arbeiteten, als die Vorfälle passierten, antworten 135 Frauen: zur Zeit als Assistenzärztinnen. 54 Frauen berichten von Vorfällen, die sie als Medizinstudentinnen erlebt haben – während ihrer Praktika an Spitälern.
Ältere Ärztinnen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren zu praktizieren begannen, geben in der Umfrage an, sexistische Sprüche seien damals praktisch an der Tagesordnung gewesen. Ganz so schlimm scheint es heute nicht mehr zu sein. Doch wie die Umfrage zeigt, kommen sexuelle Belästigungen nach wie vor häufig vor. 249 Ärztinnen beantworteten die Frage nach dem Zeitpunkt der Vorfälle. 105 von ihnen berichten, diese hätten zwischen 2010 und heute stattgefunden.
Viele der Betroffenen berichten ihren ­Arbeitskolleginnen, Freunden oder Familienangehörigen von den Übergriffen. Doch nur gerade 47 Frauen geben an, den geschilderten Vorfall intern oder extern gemeldet zu haben. Entsprechend gab es auch in den allerwenigsten Fällen Konsequenzen für die Belästiger: In der Umfrage werden sie nur 17-mal genannt, etwa mit einer Verwarnung.

Die Reaktionen
Die Ergebnisse dieser Umfrage wurden im Februar 2022 in den Tamedia-Zeitungen publiziert. Rund einen Monat später (am 26. März) folgte ein zweiter Artikel, in dem die wichtigsten Reaktionen auf die Umfrage publiziert wurden. Danach hatte die Recherche zahlreiche Reaktionen ausgelöst. So meldeten sich Dutzende weitere Ärztinnen bei der Redaktion, aber auch Verbände im Gesundheitswesen, so zum Beispiel der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO). «Wir sind über das Ausmass der Vorfälle erschrocken», sagte der stellvertretende Geschäftsführer Marcel Marti gegenüber dem Tages-Anzeiger. «Natürlich wussten wir, dass es sexuelle Belästigungen und Übergriffe in der Medizinbranche gibt. Doch dass diese teilweise sogar mit körperlicher ­Gewalt einhergehen und vor Zeugen passieren, erschüttert uns und ist ab­solut inakzeptabel.» Das sei «eine Macht­demonstration sondergleichen».
Nicht überrascht über die Ergebnisse der Umfrage war gemäss dem Rechercheteam die FMH. «Uns ist das Problem bekannt», sagte Präsidentin Yvonne Gilli gegenüber TAMEDIA: «Leider ist auch die Medizin nicht frei von sexueller Gewalt.Für die FMH gilt Nulltoleranz. Wir ver­folgen die Situation genau. Wenn sie sich nicht verbessert, werden wir handeln.» Mit Remed biete man betroffenen Ärztinnen und Ärzten bereits heute eine «professionelle und niederschwellige ­Hilfestellung» an (siehe Kasten).
Stellung zur Recherche nimmt auch der Spitalverband H+. «Wir sind uns bewusst, dass die Ärzteschaft trotz der ­Feminisierung des Berufs seit Jahrzehnten männlich dominiert ist», sagte H+-Direktorin Anne Bütikofer. «Das ­Hierarchiegefälle ist auch heute teilweise noch gross, was Potenzial für Missbrauch bietet.» Man stehe dies­bezüglich im Austausch mit den Sozialpartnern, etwa mit dem VSAO.

Zusammenfassung der TA-Publikationen vom 22.2.2022 und vom 26.3.2022 durch Bernhard Stricker, Redaktor Synapse

Was tun bei einem Vorfall?
Hilfe bietet etwa Remed, das Unterstützungsnetzwerk für Ärztinnen und Ärzte, erreichbar unter der 24-Stunden-Hotline 0800 073 633, via Kontaktformular auf www.swiss-remed.ch oder per E-Mail. Beim Beratungsportal www.belaestigt.ch ordnen Fachleute Übergriffe am Arbeitsplatz kompetent ein. Die Beratung ist kostenlos und vertraulich.

Bernhard Stricker

Redaktor Synapse