«Je mehr Eingriffe ambulant erfolgen, desto mehr wird auch die Spitex gefordert»

Marianne Pfister: Es ist mir wichtig, Folgendes zu unterscheiden: Der Grundsatz «ambulant vor stationär» gilt bereits länger und hat seit vielen Jahren einen starken Einfluss auf die Spitex: Patientinnen und Patienten haben immer kürzere ­Spitalaufenthalte oder werden häufiger ambulant operiert und danach von der Spitex nachversorgt. Aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts können immer mehr Fälle durch die Spitex zu Hause versorgt werden, auch in komplexen Situationen. Entsprechend bietet die Spitex immer mehr spezialisierte Dienstleistungen an. Der Grundsatz «ambulant vor stationär» trägt auch der sich verändernden Nachfrage der Spitex-Klientinnen und -Klienten Rechnung.

Diese Entwicklungen zeigen sich denn auch deutlich in der Zunahme der Spitex-Leistungen während der letzten zehn Jahre.

Hingegen zeigte die KLV-Änderung (per 1.1.2019, aufgrund derer sechs explizite Eingriffe nur noch ambulant durchgeführt werden dürfen) kaum Auswirkungen auf die Spitex. Dies liegt daran, dass diese Eingriffe für die ambulante ärzt­liche Behandlung prädestiniert sind und grundsätzlich selten der Nachsorge durch die Spitex bedürfen. Dazu gehören zum Beispiel Krampfadern-Operationen, die seit 1.1.2019 ambulant durchgeführt ­werden. Nach dieser Operation wird die Spitex allenfalls für das An- und Aus­ziehen von Stützstrümpfen eingesetzt, wenn die Klientin bzw. der Klient dies nicht selbst erledigen kann.

Trotz dieser Vorgabe können in begründeten Fällen Eingriffe weiter auch stationär durchgeführt werden, z.B. wenn die Patientinnen und Patienten multimorbid sind und eine ambulante Behandlung nicht angezeigt ist.

Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die Kürzung der Krankenversichererbeiträge nicht gerechtfertigt war und die ambulante Pflege vielmehr bestraft worden ist, indem sie gerade wegen des Grundsatzes «ambulant vor stationär» seit 2011 auch vermehrt Beratungs- und Koordinationsleistungen sowie medizinische Leistungen erbringt – sogenannte ­
A- und B-Leistungen. Die Spitex wurde ­bestraft, weil die A- und B-Leistungen der Spitex zugenommen hatten und damit die durchschnittliche Spitex-Stunde ­teurer wurde. Das sollte mit der Kürzung korrigiert werden. Diese Entwicklung war jedoch gerade wegen dem Grundsatz «ambulant vor stationär» politisch ­gewollt. Damit eine Kürzung zu rechtfertigen ist deshalb nicht opportun. Aber ­eigentlich sollte die Spitex ja im Grundsatz «ambulant vor stationär» vermehrt komplexere A- und B-Leistungen erbringen.

In vielen Kantonen wurden die Kürzungen durch die Restfinanzierer der Pflege (also Kantone und/oder Gemeinden) aufgefangen. Einige wenige Kantone versuchten Lösungen zu finden, indem sie die Patientenbeiträge auf das Maximum erhöhten und somit ihre Kosten auf die Patientinnen und Patienten übertragen konnten. Letzteres kann dazu führen, dass Spitexleistungen zu spät nach­gefragt werden und entsprechend ­Spitalaufenthalte nötig werden, was letztlich zu Mehrkosten führt.

Auf einer generellen Ebene kann gesagt werden, dass der Grundsatz zu einem viel stärker ausgebauten Leistungsangebot in der Spitex geführt hat. Beispielsweise ­gehören spezialisierte Palliativpflege, Psychiatriepflege, Onkologiepflege, Wundpflege, Kinderspitex und/oder 24-Stunden-Dienstleistungsangebote bereits vielerorts zum Leistungsspek­trum der Spitex.

Das grundsätzliche Konzept «ambulant vor stationär» zeigt die Wichtigkeit der nachgelagerten Versorgungsbereiche – medizinisch, therapeutisch und pflegerisch. Sie sind notwendig für die Behandlungskette und ihr Zusammenspiel ist zentral. Hier hat die Spitex eine wichtige Aufgabe und Koordinationsfunktion.

Wir gehen davon aus, dass sich der ­Bedarf im ambulanten Bereich weiter vergrössern wird. Wesentlichen Einfluss wird aber auch haben, ob der Bund die Liste mit weiteren Eingriffen erweitern wird, die ausschliesslich ambulant durchgeführt werden sollen. Hier ist zu prüfen, inwiefern auch die nachgelagerten ­Bereiche wie die Spitex Aufgaben zu übernehmen haben. Auch wenn an den ­Tarifierungsgrundsätzen ambulant-stationär Veränderungen vorgenommen werden, wird dies Auswirkungen auf die Spitex haben: Wenn mehr Anreize bestehen, ambulant zu behandeln, wird – ­unabhängig von der 6er-Liste – mehr­ambulant versorgt werden. Dies zieht entsprechend mehr Aufwand für die nachgelagerten Bereiche nach sich. Je mehr Eingriffe ambulant erfolgen, desto mehr wird auch die Spitex gefordert sein.

In allen Kantonen versorgte die Spitex Covid-19-Patientinnen und -Patienten. Entsprechend hat sie die Spitäler entlastet. Die Patienten mussten teilweise dank der Spitex gar nicht ins Spital. Die Spitäler konnten Patientinnen und Patienten früher entlassen und damit notwendige Kapazitäten für neue Erkrankte schaffen. Ältere Menschen haben teilweise ihren Eintritt ins Pflegeheim hinausgezögert, aus Angst vor einer Ansteckung oder weil sie die Einschränkungen aufgrund der Covid-Massnahmen fürchteten. Dies alles führte dazu, dass unsere Leistungen auch während der Pandemie stark angestiegen sind.

Marianne Pfister

Marianne Pfister ist seit 2015 Geschäftsführerin des Dachverbandes Spitex Schweiz. Nach ihrer Ausbildung zur Pflegefachfrau Psychiatrie hat sie nach dem Studienabschluss an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern (lic. iur.) ein Nachdiplomstudium in Health Administration mit dem Titel «Master in Health Administration» abgeschlossen. Zuvor war sie beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) und im Management von Ärztenetzwerken und Gesundheitszentren tätig, wo sie diverse Projekte im Bereich Integrierte Versorgung leitete.

Bernhard Stricker

Redaktor Synapse