«Ambulant vor stationär» – eine Bewertung aus Patientensicht

Dass Leistungen in der Gesundheitsversorgung nach einem pauschalen Grundsatz bewertet werden, ist aus Patientensicht nicht sinnvoll. Medizinische Leistungen müssen danach beurteilt werden, ob sie dem Patienten nutzen – ungeachtet dessen, in welchem Sektor sie stattfinden. Wirklich nützlich wäre vor allem eine sektorenübergreifende Perspektive.

Der medizinische Fortschritt ermöglicht es, dass Patientinnen und Patienten bei immer mehr Eingriffen noch am gleichen Tag nach Hause gehen können. Immer mehr Operationen erfordern daher keinen Spitalaufenthalt mehr. Diese Verlagerung von medizinischen Eingriffen vom stationären in den ambulanten Bereich ist ein grosses gesundheitspolitisches Thema. Seit dem 1. Januar 2019 gilt eine schweizweit verbindliche Liste ambulant durchzuführender Eingriffe. Bereits davor hatten einzelne Kantone ähnliche Listen eingeführt. Mit der neuen Regelung verfolgt der Bund insbesondere das Ziel, Verlagerungen in den ambulanten Sektor zu fördern und die Kostenentwicklung zu dämpfen. Doch was nützt die Regelung den Patientinnen und Patienten?

Der Nutzen für die Patienten ist ­entscheidend
Zunächst lässt sich festhalten: Patientinnen und Patienten sollen dort behandelt und betreut werden, wo sie mit ihrem Gesundheitsproblem am besten aufgehoben sind – und dies möglichst ohne Unterbrüche.

Bereits der erstgenannte Anspruch ist in Bezug auf den Sektor differenziert zu ­betrachten: Je nach Behandlungs- und Betreuungssituation kann ein ambulantes oder stationäres Setting für den Patienten passender sein. Es greift daher zu kurz, ambulanten Leistungen per se den Vorzug vor stationären Leistungen zu ­geben. Für die einen Patienten ist es wichtig, möglichst früh ins gewohnte ­soziale Umfeld zurückzukehren. Bei anderen Patienten macht eine längere Überwachung im Spital mehr Sinn.
Dass es mehr Differenzierung bedarf, ­akzentuiert sich bereits im Unterschied zwischen Patientinnen und Patienten mit akuten und chronischen Erkrankungen:
Das Schweizer Gesundheitssystem ist vor allem ein Akutversorgungssystem. Bei akuten gesundheitlichen Problemen ist es meistens ausreichend, in einer bestimmten Fachdisziplin behandelt und betreut zu werden. Schwierig wird es ­allerdings, wenn mehrere Fachdisziplinen in verschiedenen Versorgungssektoren am Behandlungs- und Betreuungsprozess beteiligt sind.

Äusserst komplex wird diese Behandlung, wenn es sich um chronisch kranke und multimorbide Patientinnen und ­Patienten handelt. In der Schweiz ist fast jede dritte Person ab 15 Jahren von einer chronischen Krankheit betroffen, das sind insgesamt rund 2,2 Millionen Menschen. Fast jeder fünfte über 50-Jährige hat sogar mehr als nur eine Erkrankung. Diese Patientengruppen sind mehr als alle anderen darauf angewiesen, dass die Koordination und Kommunikation zwischen den Sektoren und Disziplinen reibungslos funktioniert. Umgekehrt ist hier der Schaden in Bezug auf die Behandlungsqualität besonders gross, wenn ebendiese Koordination und Kommunikation nicht funktioniert.

Qualität hat Priorität
Grundsätzlich gilt: Wird eine medizinische Leistung erbracht – egal ob durch eine Ärztin, eine Pflegefachperson, den Apotheker oder die Physiotherapeutin, im stationären oder ambulanten Sektor –, muss die Qualität der Leistung im Vordergrund stehen.
Die Diskussion rund um den Grundsatz «ambulant vor stationär» zeigt auf, dass es zu kurz greift, wenn Massnahmen im Gesundheitswesen primär auf Kostendämpfung abzielen: Es werden kleinschrittige Lösungen innerhalb der bestehenden Systeme gesucht, ohne eine grundsätzliche Neuausrichtung in Betracht zu ziehen, die den Qualitätsaspekt anstatt des Kostenaspekts an erste Stelle stellt. Anders formuliert: Der Grundsatz «ambulant vor stationär» entfaltet seine unbestrittene Wirkung vor allem bei ­jenen Patientinnen und Patienten, welche einem bereits vordefinierten Pfad folgen, wie dies bei Akutproblemen häufig der Fall ist. Sobald komplexe, unsichere Diagnosen oder gar Mehrfacherkrankungen vorliegen, stösst jede Form der Pauschalisierung an ihre Grenzen.

Der Grundsatz «ambulant vor stationär» beinhaltet somit zu wenig Differenzierung von Patientenbedürfnissen. Anstatt einen Sektor zu bevorzugen, wäre es wichtig, den gesamten Behandlungs- und Betreuungsprozess in den Fokus zu nehmen.
Aus Sicht der Patientenorganisation braucht es hier einen Paradigmenwechsel: Die Qualität der Behandlung und ­Betreuung sollte der zentrale Anreiz für Leistungserbringende sein, die Versorgung an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten zu orientieren. Dies hätte auch einen anderen wichtigen ­Nebeneffekt: Patienten würden mehr in den Prozess miteinbezogen werden. Insbesondere bei chronischen, multimorbiden Erkrankten ist dieser Einbezug eine nicht zu unterschätzende Ressource für den Behandlungserfolg – und noch dazu ein wichtiger Aspekt in der Beziehung zwischen Patienten und Fachpersonen.

Wenn es gelingen würde, den Gesamtprozess und keine Einzelsektoren zu ­fokussieren, wäre dies ein echter Fortschritt für Patientinnen und Patienten: Es würden weniger Brüche in der Informationsweitergabe zwischen den Fachdisziplinen geschehen, verschiedene ­Expertisen könnten häufiger zusammenfliessen, Mehrfachuntersuchungen vermieden und die Behandlungsschritte mehr aufeinander abgestimmt werden.

Auch der viel diskutierte Kostenaspekt würde nicht zu kurz kommen: Wäre die Qualität erster Ansatzpunkt des gesamten Behandlungs- und Betreuungsprozesses, würde sich das auch positiv auf die gewünschte Kostendämpfung auswirken, was den Patientinnen und Patienten letzten Endes als Prämienzahlenden nützen würde.

Die Anwendung des Grundsatzes «ambulant vor stationär» zeigt somit zweierlei: Erstens müssen wir Patientenbedürfnisse differenzierter betrachten. Und zweitens ist für Patientinnen und Patienten nicht nur der einzelne Versorgungssektor, sondern vor allem der ­gesamte Betreuungs- und Behandlungsprozess von Interesse.

Susanne Gedamke

Susanne Gedamke ist Geschäftsführerin der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO) und Delegierte des Stiftungsrats. Sie hat Kommunikationswissenschaft studiert und nach dem Abschluss ihres Studiums 2011 an diversen Hochschulen Forschungsprojekte geleitet und Akteure im Gesundheitswesen in der Strategieentwicklung unterstützt.