«Ja, das System hat Lücken!»

Es ist nicht unüblich, dass Interessengruppierungen, Berufsverbände und Wirtschaftszweige ihre Anliegen auf dem Wege der Volksini­tiative in der Bundesverfassung zu verankern versuchen. So finden sich in der Bundesverfassung viele Bestimmungen über schutz- und unterstützungsbedürftige Wirtschaftszweige und Berufe, so etwa über die Landwirtschaft, Bauern­betriebe und Agrarprodukte, über das Gastgewerbe und Kreditwesen, über den Schutz von Tierarten, Fischen und Vögeln und nun auch im Bereich des Gesundheitswesens über die medizinische Grundversorgung durch die Hausarztmedizin und die Pflegefachpersonen.

Man kann den Sinn dieser Privilegierungen aus juristischer Sicht anzweifeln; Tatsache ist jedoch, dass unser System der direkten Demokratie mit der Möglichkeit der Volksinitiative auf Bundesebene keine inhaltliche «Vorkontrolle» der Verfassungswürdigkeit von Initiativtexten kennt. Als «grundlegend» im Sinne der Verfassung gilt und Aufnahme in unser «Grundgesetz» findet, was die Mehrheit von Volk und Ständen durch ihre Zustimmung als solches gutheisst.

Durch die Aufnahme dieser Berufsgattungen in der Verfassung erhalten diese nicht nur eine besondere Hervorhebung, die Schutz- und Förderbestimmungen haben auch eine erhöhte Bestandeskraft. Die entsprechenden Bestimmungen ­können nur wieder erschwert, mit der Zustimmung von Volk und Ständen, abgeändert oder aufgehoben werden. Die verfassungsrechtliche Verankerung hat aber auch ihren Nachteil. Die Bestimmungen müssen – weil nicht unmittelbar anwendbar – vorerst auf Gesetzes­ebene umgesetzt werden. Damit besteht die Gefahr, dass der Wille der Initianten durch das Parlament abgeschwächt wird, wenn der Text dies zulässt. Dann müssten die Initianten notfalls dagegen wieder das Gesetzesreferendum ergreifen.

Nein, die erforderliche Unterschriftenzahl ist rein statistisch betrachtet viel zu niedrig. Sie müsste angesichts der gestiegenen Anzahl von Stimmberechtigten seit 1891 (Datum der Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung) mindestens verdoppelt oder verdreifacht werden. Insbesondere seit der letzten Erhöhung der erforder­lichen Unterschriften von 50’000 auf 100’000 im Jahre 1977 hat die Bevölkerungszahl stark zugenommen – aber auch das Interesse an diesem Instrument. Für die ersten rund 250 Volksini­tiativen brauchte es fast 100 Jahre, heute sind es über 400. Vor allem seit der Jahrtausendwende sind viele Initiativen eingereicht worden. Früher war die Volks­initiative ein Mittel politischer Kräfte, die im Parlament nicht vertreten waren oder nicht gehört wurden, heute ist sie zu ­einem Wahlkampfvehikel selbst der grössten Parteien geworden.

Trotz aller Bemühungen konnte die Unterschriftenzahl bislang nicht erhöht werden. Der Vorschlag zur Erhöhung fand letztmals auch im Rahmen der Volksrechtsreform im Zusammenhang mit der Totalrevision der Bundesver­fassung von 1999 keine Zustimmung. Zudem zeigen die Erfahrungen in den ­Kantonen, dass höhere Hürden nicht zwingend zu weniger Volksinitiativen führen. Jene, die die Initiative als Marketing-Instrument missbrauchen, werden auch bei höheren Unterschriftenzahlen noch immer die Kraft haben, dies zu tun. Auch die Pflegeinitiative wäre zustande gekommen, weil sie angesichts der Pandemie auf sehr grosses Verständnis stiess und von einer eigentlichen Volksbewegung getragen wurde.

Ja, das System hat in der Tat Lücken, wobei die Gesetzesinitiative auf Bundesebene nur schwer realisierbar und rechtsstaatlich auch nicht unabdingbar ist, während die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit einen empfindlichen rechtsstaatlichen Mangel darstellt.

Die Gesetzesinitiative, also das Recht von Stimmbürgern, den Erlass von Rechtsnormen auf der Gesetzesstufe vorzuschlagen, wurde wiederholt erwogen, aber immer wieder verworfen. Erstmals sollte dieses Instrument schon 1872 in
die Bundesverfassung aufgenommen werden, wurde aber von Volk und Ständen abgelehnt, 1904 auch eine entsprechende Standesinitiative. Ebenso wenig fanden auf Bundesebene 1918 und 1930 parlamentarische Motionen Anklang, ­obwohl die Gesetzesinitiative inzwischen in fast allen Kantonen eingeführt wurde. 1961 sprachen sich Volk und Stände in sämt­lichen Kantonen dagegen aus, 1987 lehnte der Nationalrat eine Einführung ab, und im Rahmen der Totalrevision mit der Ergänzung der Volksrechte 2003 wurde stattdessen die Allgemeine Volksinitiative eingeführt, mit der nicht nur Verfassungs-, sondern auch Gesetzes­änderungen hätten angeregt werden können. Wegen Schwierigkeiten bei der Umsetzung liess man schliesslich das Vorhaben fallen und von Volk und ­Ständen 2009 den Verzicht bestätigen. Gründe für die ablehnende Haltung auf Bundesebene waren immer die gleichen: die mögliche Überforderung von Initiativkomitees mit der Formulierung von Gesetzen, die Komplexität der Abstimmung mit der bestehenden Bundesrechtsordnung und die Missachtung des Parlaments.

Bei der Verfassungsgerichtsbarkeit gilt es zu präzisieren: Die Schweiz kennt die Verfassungsgerichtsbarkeit bereits in zwei Formen, beim Schutz des Individuums wegen Verletzung verfassungs­mässiger Rechte und beim Schutz der ­föderativen Ordnung. Was auf Bundesebene fehlt, ist die richterliche Kontrolle der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen. Gemäss Art. 190 BV sind Bundes­gesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsan-
wendenden Behörden massgebend
(bindend), auch wenn sie – was selten der Fall ist – die Verfassung «ritzen». Bisher sind alle Versuche, die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene auszubauen, gescheitert (auch in der blossen Form der Überprüfung einer einzelnen Norm im konkreten Fall). Der hierfür immer wieder vorgebrachte Grund liegt in der geltend gemachten übergeordneten Stellung des direkt-demokratisch legitimierten Gesetzgebers: Das Gericht soll nicht über eine Norm entscheiden, die (wenn auch nur potenziell) vom Volk im Referendum hätte genehmigt werden können.

Prof. Dr. iur. et lic.oec. Heinrich Koller

Prof. Dr. iur. et lic.oec. Heinrich Koller war zwischen 1988 und 2006 Direktor des Bundesamtes für Justiz . Ausserdem war er Professor für öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Basel.

Bernhard Stricker

Redaktor Synapse