Mut zur Offensive!
Das Berufsbild und die Rolle von Arzt und Ärztin haben in unserem Kulturkreis seit über 2500 Jahren Bestand. In Schriften von Hippokrates finden sich Inhalte, die bis heute Gültigkeit haben. Berufung als solche ist ein wesentlicher Teil unseres Berufsverständnisses oder sollte ein solcher sein, auch wenn Rahmenbedingungen von staatlicher und gesundheitspolitischer Seite oder eine industrielle betriebswirtschaftliche Logik hier zunehmend grossen Schaden anrichten. Dies sollte uns, zusammen mit allen anderen Medizinal- und Gesundheitsberufen, ver-
anlassen, Gegenmassnahmen zu ergreifen. Der an der klinischen Front spürbare Schaden veranlasste Ärztinnen und Ärzte, den Hippokratischen Eid zu aktualisieren. Das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes wurde überarbeitet und publiziert.
Der Arztberuf ist ein freier Beruf.
Ein freier Beruf
Der Arztberuf ist ein freier Beruf. Freiheit ist notwendige Voraussetzung, um auf die grosse Varianz der Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten medizinisch adäquat reagieren zu können. Freiheit ist auch notwendig, da betriebswirtschaftliche Optimierung und eine optimale medizinische Behandlung (d. h. weder Über- noch Unterversorgung) in einem Spannungsfeld stehen. Insbesondere im stationären Bereich, in welchem die Ärztinnen und Ärzte zunehmend unfrei sind, ritzen Controlling und auch das DRG-System die medizinische Indikations- und Behandlungsqualität. Dies ist regelmässig von in den Spitälern arbeitenden Kolleginnen und Kollegen zu hören und steht im Einklang mit Schilderungen von Patientinnen und Patienten. Der Schwarze Peter in dem Spiel wird typischerweise der Ärzteschaft und der Pflege zugeschoben. Es braucht Mut zur Offensive. Dass zunehmend Kolleginnen und Kollegen Spitäler verlassen oder den Beruf gar ganz wechseln ist ein trauriger Begleiteffekt. Eine junge Kollegin aus meinem persönlichen Umfeld, MD und PhD, mit Wissenschaftspreisen ausgezeichnet, hat sich aus diesem Grund entschlossen, der klinischen Medizin den Rücken zu kehren. Dass auch Pflegende ihren Beruf verlassen, dürfte spätestens mit der Pflegeinitiative allgemein wahrgenommen worden sein.
Die Kunst der medizinischen Anamnese verträgt sich auch nicht mit starren Vorgaben wie Zeitlimitationen.
Freiheit benötigen wir, da wir in der Arzt-Patienten-Beziehung auf ein Vertrauensverhältnis angewiesen sind. Denn nur in einer Umgebung, die Vertraulichkeit garantiert, sind Patientinnen und Patienten bereit, gewisse Ursachen ihrer Probleme zu schildern. Die Kunst der medizinischen Anamnese verträgt sich auch nicht mit starren Vorgaben wie Zeitlimitationen, die teuerste Fehlleistung im Rahmen des bundesrätlichen Tarifeingriffs.
Verheerende Risikoselektion
Unser aktuelles Versicherungssystem bietet keine Vertrauensbasis. Sowohl die aktuelle Gesundheitspolitik wie ein Teil der Versicherer (santésuisse) funktionieren nach dem Misstrauens- und Kontrollprinzip, weisen aber selbst eklatante Qualitäts- und Wissensmängel auf. Bei vielen Krankenversicherern geht es weiterhin knallhart um Risikoselektion. Ausdruck dieser Priorisierung sind Millionen von Schweizer Franken, welche in Werbemittel investiert werden. Wieso benötigen wir bei einem Versicherungsobligatorium Fernsehwerbung von Kran-
kenversicherern en masse? Alleiniges Ziel dieser Werbung ist es, «günstige Risiken» anzuziehen. Zudem werden damit auch die Medien gefügig gemacht. Wer bezahlt, erhält auch Platz für entsprechende Artikel.
Bei vielen Krankenversicherern geht es weiterhin knallhart um Risikoselektion.
Über die Strategien, mit denen dieselben Versicherer dann schlechte Risiken (in der Regel ältere, chronisch kranke, polymorbide Patientinnen und Patienten) abstossen, reden wir hier nicht. Es verwundert denn auch nicht, dass sich die Versicherer (von wenigen prominenten Einzelpersonen abgesehen) bei der Initiative «Kinder ohne Tabak» nicht engagieren, im Gegensatz zu Gesundheitsberufen und -organisationen, insbesondere den Ligen, dem Lehrerverband sowie den Sport- und Jugendverbänden.
Nikotinabhängige Kinder und Jugendliche scheinen in das Konzept von santésuisse zu passen. Denn es bietet sich die Möglichkeit, im Zusatzversicherungsgeschäft zu selektionieren oder in anderen Versicherungsbereichen höhere Prämien zu verlangen, z. B. bei einer Todesfallrisikoversicherung. Auch hat santésuisse massgeblich zur schlechten Durchimpfungsrate in der Schweiz beigetragen. Als Märchen und Selbstbeweihräucherung sind deshalb die entsprechenden Informationen in INFO santésuisse 6/2021 zu bewerten.
Gleichwohl gibt es wenige Versicherer (curafutura und SWICA, die die Mehrheit aller Versicherten betreuen), denen das Patientenwohl wirklich auch ein Anliegen zu sein scheint und mit denen man zukunftsgerichtet arbeiten kann.
Ausdruck davon ist zum Beispiel der Tardoc. Dieser passt aber nicht in die Ideologie von Staatsmedizin unseres Gesundheitsministers, weshalb hier willkürlich blockiert wird, auch unter Inkaufnahme einer Gefährdung der Versorgungssicherheit.
Systeme lassen sich auch staatlich an die Wand fahren .
Das gilt auch für fortschrittliche Konzepte wie die Interprofessionalität. Viele qualifizierte berufstätige Frauen können infolge dieser Blockadehaltung weder entsprechend ihren Qualifikationen tätig noch adäquat entschädigt werden. Systeme lassen sich auch staatlich an die Wand fahren und die Verantwortung dafür im selben Atemzug an die Gesundheits- und Medizinalberufe delegieren.
Prämien- statt Kostenexplosion
Manipulierte Kurven, die einen Kostenanstieg von Krankenkassenprämien zeigen, werden unter dem irreführenden Titel «Kostenexplosion im Gesundheitswesen» dargestellt. Das sind Fakenews, die von kaum einem Journalisten erkannt, geschweige denn vertieft recherchiert werden, wenn auch die Materie zugegeben einigermassen komplex ist. Zu den berechtigten Fragen, warum die Prämien mehr als 50 % stärker gestiegen sind als die effektiven Gesundheitskosten oder warum die Krankenversicherer auf Milliarden Schweizer Franken Reserven sitzen, die in den letzten Jahren massiv zugenommen haben, geben der Gesundheitsminister und das Bundesamt für Gesundheit keine Antwort (notabene als Verantwortliche für die Prämienfestsetzung). Warum zitierte der Gesundheitsminister CEOs von Krankenversicherern, die Prämien für ihre Versicherten in Anbetracht der Reserven bereits vor einigen Jahren senken wollten und übte Druck aus, dass dies nicht zulässig sei, da das Bundesamt die Prämien festsetze? Besteht die Gefahr, dass das wichtigste politische Druckmittel und die Legitimation für die Kostendämpfungspakete verloren ginge?
Deutschland schafft aktuell Kostenziele und Globalbudget in der Grundversorgung ab, die unser Gesundheitsminister nun neu einführen will.
Deutschland schafft aktuell Kostenziele und Globalbudget in der Grundversorgung ab, die unser Gesundheitsminister nun neu einführen will. Grund für die Abschaffung: katastrophale Auswirkungen auf die Versorgungslage und keine Kostenersparnis. Was können wir tun? Wir müssen das Heft wieder selber in die Hand nehmen: Es braucht Mut zur Offensive.
Im Klartext: Es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Es gibt aber wohl ein Lastenverteilungsproblem und dies liesse sich mit EFAS zu einem grossen Teil lösen. Die Ansätze der bundesrätlichen Kostendämpfungspakete sind hingegen zu einem relevanten Teil veraltet und obsolet, wie sich am Beispiel Deutschlands ablesen lässt. Über die Auswirkungen von DRG wird an anderer Stelle in dieser Ausgabe berichtet.
Wir sind für eine günstige, optimale Medizin.
Rationierung lässt sich vermeiden. Allerdings werden viele konstruktive Vorschläge von medizinisch-fachlicher Seite nicht wahrgenommen, sei es nun in der Administration oder in den Spitälern. Andere Agenden werden verfolgt. Auch werden Gesetze wie das Arbeitsgesetz nicht eingehalten respektive sogar schlechter eingehalten als noch vor wenigen Jahren. Dafür sind Gesundheitsminister und -politik zwar verantwortlich, aber nicht zuständig. So bringt denn der VSAO in diesem Zusammenhang viele berechtigte Anliegen vor. Die Anzahl Studienplätze für Medizin zu erhöhen und Ausbildungsplätze für die Pflege sind notwendige, aber keineswegs hinreichende Massnahmen. Trotz Pandemie wird die Resilienz unseres Gesundheitswesens durch staatliche Massnahmen weiter geschwächt statt gestärkt, trotz Verankerung in der Bundesverfassung. Lücken in unserem Rechtssystem werden hier ebenfalls ausgenützt.
Es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Es gibt aber wohl ein Lastenverteilungsproblem.
Keine staatlichen Eingriffe in die Aus-, Weiter- und Fortbildung
Sogar das Bundesamt für Gesundheit, dessen Mitarbeitende seit Pandemiebeginn sehr viel zu bewältigen haben, ächzt unter Burnout, krankheitsbedingten Ausfällen und Stellenabgängen in einem Ausmass, das uns Sorge bereitet.
Als «Federal Office of Public Health» ist das BAG aus Sicht von Public Health stark dysfunktional. Der Sündenfall kann allerdings nicht dem aktuellen Gesundheitsminister angelastet werden, nur die aktuellen Stellenbesetzungen.
Aus Public-Health-Sicht wäre dringend zu raten, die KUV-Direktion vom BAG weg wieder in das BSV zu integrieren. Wir hätten die Pandemie bisher wesentlich besser bewältigt. KUV und Public Health sind inkompatibel. Dies ist weniger ein Vorwurf an die Personen, welche aktuell diese Stelle besetzen, sondern vielmehr an diejenigen, die diese Organisation verantworten und nicht ändern.
Völlig verbieten sollte sich ein verstärktes staatliches Eingreifen in die Aus-, Weiter- und Fortbildung.
Völlig verbieten sollte sich ein verstärktes staatliches Eingreifen in die Aus-, Weiter- und Fortbildung. Weder der Staat noch die Berufsverbände können ein Interesse an schlecht qualifizierten Berufsleuten haben. Auch haben die Berufsverbände weder ein Interesse an zu vielen noch an zu wenigen Berufsleuten. Dies sollte bei der Zulassungssteuerung vor allem von kantonaler Seite zwingend berücksichtigt werden. Entsprechende Kontakte von Seiten der kantonalen Ärztegesellschaften mit den Kantonen sind erforderlich. Eine Steuerung der Zulassung lässt sich nur partnerschaftlich sinnvoll und optimal lösen.
Und was bringt das elektronische Patientendossier? Es kann hilfreich sein, aber nur, wenn es ausreichend Zusatznutzen bringt und «user-friendly» ist, sowohl für Patientinnen und Patienten wie auch für Health Professionals. Auch ist die Quadratur des Zirkels zwischen einfachem, benutzerfreundlichem Zugang und Cybersicherheit zu stemmen. Ferner wären auch hier längst Standards erforderlich. Faktisch führen viele divergierende proprietäre Einzellösungen aktuell zu einer Quasi-Monopolstellung der entsprechenden Software-Anbieter. Auch hier bewegt sich nur wenig. Es handelt sich aber nach den Personalkosten bereits um den zweitgrössten Kostenfaktor für Betriebe im Gesundheitswesen, zumindest für ambulante Arztpraxen. Zudem sind Auswirkungen auf eine Verschärfung der Workforce-Problematik gegeben. Völlig falsch ist jedenfalls der Ansatz, untaugliche IT-Lösungen per Gesetz als obligatorisch zu erklären.
Was müssen wir selber in die Hand nehmen?
Wir brauchen eine longitudinale Begleitung ab Studium bis zur Pensionierung, ein gemeinsames Auftreten mit einem Berufsethos und -verständnis, das alle entgegen der Tendenz zur Spezialisierung und Fragmentierung miteinschliesst, vom Psychiater über die Internistin bis zur Chirurgin. Wir müssen uns einigen im Hinblick auf den Fortbestand und die Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Wir brauchen Generalisten und Spezialisten.
Unsere politischen Hintergründe dürfen und sollen divers sein können. Wir dürfen uns durch diese nicht auseinanderdividieren lassen.
Wir dürfen uns nicht instrumentalisieren lassen, eingedenk der Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist das Kernelement unserer Tätigkeit. Hier müssen wir für die Bewahrung und die erneute Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen kämpfen.
Also: Mut zur Offensive.
Weiterführende Literatur
Zu den grossen, zunehmenden Problemen der Ökonomisierung der Medizin und des Gesundheitswesens sei die Lektüre von Giovanni Maio («Geschäftsmodell Gesundheit», «Den kranken Menschen verstehen – Für eine Medizin der Zuwendung») empfohlen und hinsichtlich Bürokratisierung die Studien des VSAO. Die Bürokratisierung und der Kontrollwahn im Gesundheitswesen wurden treffend und knallhart auch von zwei niederländischen Ökonomen analysiert. In ihrem Buch «Coorporate Rebels» zeigen sie die deletären Auswirkungen dieser von unserer Gesundheitspolitik und von gewissen Versicherern favorisierten Ansätze auf Spitex-Organisationen auf.