Ärztliche Zulassungskriterien und Höchstzahlen gefährden die Versorgungssicherheit

Die vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) auf den 1. Januar 2023 in Kraft gesetzte Verordnung über die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade im Rahmen der Zulassungsbeschränkung von Ärztinnen und Ärzten durch die Kantone ist aus Sicht der FMH ein Eigentor.

Am 1. Juli 2021 ist Art. 55a KVG «Beschränkung der Anzahl Ärzte und Ärztinnen, die im am­bulanten Bereich Leistungen erbringen» in Kraft getreten. Die Kantone hatten damit den Auftrag erhalten, ihre kantonalen Regelungen innerhalb von zwei Jahren an die neue Gesetzgebung ­anzupassen, konkret bis zum 30. Juni 2023.

Aus Sicht der FMH ist diese EDI-Verordnung ein Eigentor.

Neue Zulassungskriterien für Gesuche ab 1. Januar 2022
Per 1. Januar 2022 wurde ein neues formelles Zulassungsverfahren für Leistungserbringung zulasten der OKP eingeführt. Die Zulassungs­kriterien sind auf eidgenössischer Ebene im Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) und in der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) festgehalten. Für die Umsetzung sind die Kantone zuständig, das heisst, sie überprüfen die Zulassungsvoraussetzungen und erteilen die Zulassungsbewilligungen.

Ärztinnen und Ärzte, die ab 1. Januar 2022 neu zur Tätigkeit zulasten der OKP zugelassen werden möchten, müssen folgende Voraussetzungen erfüllen:

1. Sie verfügen über eine kantonale Berufsausübungsbewilligung.

2. Sie verfügen über einen eidgenössischen oder einen von der MEBEKO anerkannten ausländischen Weiterbildungstitel im Fachgebiet, für das die Zulassung beantragt wird.

3. Sie müssen mindestens drei Jahre im Fach­gebiet, wofür sie die Zulassung beantragen, an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben.

4. Sie weisen die in ihrer Tätigkeitsregion notwendige Sprachkompetenz mittels einer in der Schweiz abgelegten Sprachprüfung nach. Ärzte und Ärztinnen verfügen dann über die notwendige Sprachkompetenz, wenn sie in der Lage sind, in der Sprache ihrer Tätigkeitsregion zu sprechen.

5. Sie weisen nach, dass sie die Qualitätsan­forderungen nach Art. 58g KVV erfüllen.

6. Ärztinnen und Ärzte müssen sich einer zertifizierten Gemeinschaft oder Stammgemeinschaft für das elektronische Patientendossier anschliessen.

Höchstzahlen / Versorgungsgrade – faktisches Berufsverbot?!
Gemäss neuem Recht Art. 55a KVG setzen die Kantone Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich fest. Der Bundesrat gibt die Kriterien und methodische Grundsätze für die Festlegung der Höchstzahlen vor. Die Kantone beschränken in einem oder mehreren medizinischen Fachgebieten oder in bestimmten Regionen die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die im ambulanten Bereich Leistungen zulasten der OKP erbringen. Der Beschränkung unterstehen Ärztinnen und Ärzte, die ihre Tätigkeit zulasten der OKP ausüben, die im spitalambulanten Bereich ihre Tätigkeit ausüben und die ihre Tätigkeit in einer Einrichtung der ambulanten Krankenpflege nach Art. 35 Abs. 2 lit. n KVG ausüben.

Seit dem 1. Januar 2023 ist die Verordnung über die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade je medizinisches Fachgebiet im ambulanten Bereich [1] in Kraft. Diese Versorgungsgrade basieren auf einer Analyse, die das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) in Zusammenarbeit mit der BSS Volkswirtschaftliche Beratung AG (BSS) durchgeführt hat.

Aus Sicht der FMH ist diese EDI-Verordnung ein Eigentor: Sie gefährdet die Versorgungssicherheit und -qualität in der Schweiz und hat dramatische Folgen für die Aus- und Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte. Zudem ignoriert sie die seit Jahren bekannte Tatsache, dass wegen zu weniger Studienplätze in der Medizin die Abhängigkeit von ausländischen Ärztinnen und Ärzten ständig zunimmt. Die FMH machte in ihrer Vernehmlassungsantwort [2] auf die mangelnde Datengrundlage aufmerksam, welche im Schlussbericht von den Autoren selbst genannt werden. Diese Bedenken wurden aber vom EDI in der Verordnung nicht berücksichtigt. Die statistischen Grundlagen lassen aktuell keine ­belastbare Herleitung der Versorgungsgrade und der anschlies­senden, darauf basierenden Berechnung der Höchstzahlen zu. Die trotzdem erfolgte Publikation von Versorgungsgraden hat Folgen für die Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und ­Ärzten und die Qualität der medizinischen Versorgung. Dies kann dazu führen, dass erfahrene Ärztinnen und Ärzte länger am Spital tätig bleiben müssen, was sich wiederum negativ auf die Möglichkeiten von Assistenz­ärztinnen und -ärzte in Weiterbildung zum Facharzttitel auswirkt, da diese auf ent­sprechende Weiter­bildungsplätze an Spitälern angewiesen sind. Die Versorgungsgrade führen je nach Kanton und Fachrichtung teilweise zu ­einem faktischen Berufsverbot im praxisambulanten Bereich mit ­gravierenden Konsequenzen für die Patientenversorgung und die Versorgungssicherheit in der Schweiz.

Ausnahmeregelung in der Pipeline
Die Voraussetzung, dass Ärztinnen und Ärzte mindestens drei Jahre im Fachgebiet, wofür sie die Zulassung beantragen, an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben müssen, gefährdet die medizinische ambulante Versorgung. Entsprechend sieht das ­Parlament hier berechtigt Handlungsbedarf, weshalb Art. 37 Abs. 1 KVG mit einer Ausnahmeregelung ergänzen werden soll. Im Herbst 2022 fand dazu ein verkürztes Vernehm­lassungsverfahren statt. Die FMH hat sich hier klar dafür ausgesprochen, dass die Kantone, welche ja die verfassungsmässige Verantwortung für die Gesundheitsversorgung in ihrem Kantonsgebiet tragen, von einer solchen Ausnahmeregelung für alle Fachgebiete Gebrauch machen können, da eine drohende Unterversorgung sich nicht nur auf die Grundversorgung beziehen kann. Die Ausnahmeregelung soll im Frühjahr von den Räten in Form eines zeitlich befristeten dringlichen Bundesgesetzes erlassen werden [3].

Literatur

1 Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzte (admin.ch); https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/versicherungen/krankenversicherung/leistungserbringer/hoechstzahlen-aerzte-aerztinnen.html

2 https://www.fmh.ch/files/pdf28/2022-12-05_medienmitteilung_versorgungsgrade.pdf

3 22.431 | Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung | Geschäft | Das Schweizer Parlament

Esther Kraft

Leiterin Abteilung Daten, Demographie und Qualität DDQ bei der FMH.