Immer das falsche Formular – willkommen in Seldwyla

Ausländische Ärztinnen und Ärzte werden in der Schweiz gebraucht. Die Willkommenskultur aber hat sich geändert. Das kann zum Bumerang werden. Die folgende Geschichte handelt vom Kampf einer ausländischen Ärztin gegen kantonsärztliche Windmühlen.

Man sollte nie vom Einzelfall auf das Allgemeine schliessen. Der konkrete Fall ist ein Beispiel unter anderen und zeigt, wie eine kantonale Behörde ernst und feierlich über das Ziel hinausschiesst.

Der rechtliche Rahmen
Die Ausübung von universitären Medizinalberufen (worunter Ärztinnen und Ärzte mit einer abgeschlossenen Weiterbildung fallen) ist bundesrechtlich geregelt und erfordert eine Bewilligung. Gleiches gilt für die Voraussetzungen, unter welchen Ärztinnen und Ärzte ihre ambulant erbrachten Leistungen zulasten der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) abrechnen dürfen.

Zuständig für die Erteilung der erforderlichen Bewilligung zur Berufsausübung und zur Abrechnung über die OKP sind jedoch die Kantone. Dies ist für einen föderalistisch strukturierten Staat wie die Schweiz nicht ungewöhnlich.

Dennoch ist es nachvollziehbar, dass sich die kommunalen Amtsträger im Paragraphendschungel des ihnen hoheitlich vorgeschriebenen Bundesrechts gelegentlich verirren können.

Um dies zu verhindern, erlassen die zuständigen Bundesbehörden Vollzugshilfen, welche den Kantonen die Anwendung des Bundesrechts erleichtern und vereinheitlichen sollen.

Nicht nachvollziehbar ist jedoch, wenn die Amtsträger in den Kantonen sich über diese Vollzugshilfen hinwegsetzen und meinen, sie würden das ihnen vorgegebene Bundesrecht «besser» als vom Bund vorgeschlagen um-
setzen.

Im Hinblick auf die neuesten Änderungen im Regime der ohnehin bereits komplexen Zulassungsbeschränkungen für Ärztinnen und Ärzte hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine solche Vollzugshilfe erlassen und darin oft gestellte Fragen einheitlich beantwortet, um einen kantonalen Flickenteppich zu verhindern.

Seldwyla heute
Und hier beginnt nun unsere Geschichte: Wo sie spielt, ist unerheblich. Entscheidend ist die Parallele zu Gottfried Kellers «Seldwyla», welches deshalb fiktiv als Handlungsort der vorliegenden Geschichte dienen soll.

In «Seldwyla» stellen die Behörden den Ärztinnen und Ärzten zwei Formulare für Bewilligungsgesuche zur Verfügung: ein Formular für die Bewilligung für Ärztinnen, die in eigener fachlicher Verantwortung (sprich: nach abgeschlossener Weiterbildung zur Fachärztin) den Beruf ausüben wollen, und eines für jene, die im Rahmen der Weiterbildung als Praxisassistentin oder Praxisassistent arbeiten möchten.

Die reale Welt ist komplizierter.

Sämtliche Ärztinnen und Ärzte, die ihre Aus- und Weiterbildung im Ausland absolviert haben, werden von den zwei zur Verfügung gestellten Gesuchsformularen nicht erfasst: Um eine Bewilligung als Ärztin oder Arzt zu erhalten und die erbrachten Leistungen über die OKP abrechnen zu dürfen, müssen die Bedingungen der Zulassungsbeschränkung erfüllt sein. Eine Bedingung ist zum Beispiel der Nachweis einer dreijährigen Tätigkeit im beantragten Fachgebiet an einer schweizerischen Weiterbildungsstätte (Art. 37 Abs. 1 KVG). Die drei Jahre werden hierbei auf ein Pensum von 100% gerechnet. Sinn und Zweck dieser dreijährigen Tätigkeit ist die fachlich qualifizierte Einführung in das schweizerische Gesundheitssystem.

Für die Tätigkeit an einer anerkannten Praxis-Weiterbildungsstätte im angestrebten Fachgebiet braucht es selbstverständlich auch eine kantonsärztliche Bewilligung. Aufgrund der Ausgestaltung der Gesuchsformulare in Seldwyla gibt es für Fachärzte, welche noch nicht über eine dreijährige Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte verfügen, kein Gesuchsformular, das ihrer Situation entspricht.

Reichen sie das Gesuch um Bewilligung zur Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung ein, wird ihnen beschieden, dass sie zuerst die dreijährige Tätigkeit an einer Weiterbildungsstätte ausweisen müssen.

Wählen sie das andere Formular und reichen
das Gesuch um Bewilligung zur Anstellung als Weiterbildungsassistentin ein, wird ihnen mitgeteilt, dass sie – da sie ja schon über eine abgeschlossene Facharztausbildung verfügen – nicht mehr als Weiterbildungsassistentinnen an einer Weiterbildungsstätte arbeiten können. Sie erhalten also auf beide Antragsformulare eine Absage.

Um dies zu verhindern, empfahl das BAG in seiner Vollzugshilfe, Fachärztinnen und Fachärzte, welche noch nicht über die dreijährige Tätigkeit an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte verfügen, für die Dauer dieser Tätigkeit den Personen in Weiterbildung gleichzusetzen (womit sie während dieser drei Jahre ihre Leistungen über die Zulassungsnummer der Weiterbildungsstätte zulasten der OKP abrechnen können). Die «Seldwyler» Kantonsbehörde verweigert dies jedoch mit dem Argument, dass das von der Bundesbehörde vorgegebene Vorgehen nicht zulässig sei, weil damit der (von Bundesrechts wegen!) vorgegebene Zweck der Zulassungsbeschränkung vereitelt würde.

Behördenwillkür
Doch damit noch nicht genug der Behördenwillkür. Im vorliegenden Fall erteilte der für «Seldwyla» zuständige kantonsärztliche Dienst einer ausländischen Fachärztin zunächst eine Bewilligung als Assistentin.

Nach zwei Dritteln der Tätigkeit an der anerkannten Weiterbildungsstätte verweigerte die Behörde jedoch plötzlich die Verlängerung der Bewilligung.

Geändert hat sich nicht die gesetzliche Grundlage, sondern das kantonsärztliche Personal.
Die Verlängerung wurde in der Logik der Antragsformulare mit dem Hinweis verweigert, dass eine Ärztin mit abgeschlossener Facharztausbildung nicht als Weiterbildungsassistentin arbeiten könne und eine Tätigkeit in eigener Verantwortung nicht möglich sei, da die Bedingung der geforderten dreijährigen Tätigkeit an einer Weiterbildungsstätte nicht erfüllt sei. Die Ärztin hätte einzig das Recht auf eine Arztbewilligung, nicht aber die Zulassung zur Abrechnung über die OKP. Die Ärztin dürfe auch nicht über die Zulassungsnummer der Weiterbildungsstätte zulasten der OKP abrechnen.

Diese Behördenwillkür ist nicht bloss stossend, sondern für die betroffene Ärztin existenzgefährdend:

Der Entscheid kommt für die Ärztin faktisch einem Berufsverbot im Kanton XY gleich.

Es wird sich kaum eine Praxis-Weiterbildungsstätte finden, die eine Fachärztin anstellt, deren Leistungen nicht zulasten der OKP abgerechnet werden können. Dies ist keine Willkommenskultur, sondern zielt auf eine Verhinderung ausländischer Kolleginnen und Kollegen ab, die schon ausgebildet sind und in der Schweiz im niedergelassenen Bereich arbeiten wollen – und dort auch gebraucht werden.

Der Sinn der Zulassungsbeschränkung für ausländische Fachärztinnen und -ärzten wird durch die beschriebene Bewilligungspraxis ausgehebelt. Sie führt zu einer vom Bund (angesichts der aktuellen ärztedemografischen Situation) nicht gewünschten, zusätzlichen Limitierung.

Und die Moral von der Geschicht? Der Ärztin wurde das Wegerecht erteilt und dann nach zwei Dritteln der Strecke dasselbe verweigert – ohne dass die gesetzliche Grundlage geändert hätte. Nun kann sie sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen. Die kantonsärztliche Begründung für diese bizarre Situation lautet lapidar, die erste Bewilligung sei ein Versehen gewesen.

Wären nicht echte Menschen und Schicksale betroffen, könnte man das Ganze als tragikomische Posse abtun. Für die betroffene Ärztin ist sie jedoch nicht komisch, sondern nur tragisch. Und wie eingangs erwähnt: Die Geschichte ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel. Ein Beispiel aus Seldwyla.

Weniger Hürden für Haus-und Kinderärzte: Temporäre Suspendierung der 3-Jahres-Regel

Hausärztinnen und Kinderärzte können neu unter bestimmten Voraussetzungen auch dann Leistungen zulasten der obligatorischen Krankenversicherung abrechnen, wenn sie noch nicht drei Jahre lang in einer anerkannten Schweizer Weiterbildungsstätte gearbeitet haben. Mit der Ausnahmeregelung will das Parlament einer medizinischen Unterversorgung in gewissen Bereichen entgegenwirken.

Die Ausnahmeregelung ist bis Ende 2027 befristet. Ausgearbeitet hatte die Vorlage die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-N), die in der Frühlingssession 2023 sowohl vom National- als auch vom Ständerat angenommen wurde.

Persönlicher Kommentar

Das Kantonsgericht teilte die Ansicht des Verfassers in der mündlichen Urteilsberatung vom 1.2.2023. Das schriftliche Urteil ist bis dato noch nicht vorliegend. Die online einsehbaren Gesuchsformulare für die Arztbewilligungen wurden im Nachgang der Urteilsberatung vom Amt für Gesundheit entsprechend angepasst. Am 14.3.2023 wurde der Kollegin vom kantonsärztlichen Dienst eine Bewilligung für Arztassistentin ausgestellt (rückwirkend auf den 1.7.2022 notabene!). Die juristischen Auseinandersetzungen dauerten gut 18 Monate, nicht zuletzt, weil die kantonsärztliche Instanz die legalen Möglichkeiten der Fristerstreckung im Vernehmlassungsverfahren regelmässig ausnutzte, was das Leiden der jungen Kollegin um Monate verlängerte …

Dr. med. Heini Grob

Facharzt für Dermatologie und Venerologie in Reinach