Gesundheitspolitische Holzwege
Was ist typisch für einen Holzweg? Er ist meistens breit, manchmal sumpfig und gelegentlich durch Äste versperrt. Vor allem aber: Auf ihm kommt man nicht ans Ziel. Er endet früher oder später irgendwo im Dickicht.
Ist die Medizin in der Schweiz auf dem Holzweg? Auf den ersten Blick scheint es nicht so. Wir haben noch immer eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Die meisten Patienten sind zufrieden und realisieren nicht, auf welch schlüpfrigen Holz- und Abwegen sich die Gesundheitspolitik seit Jahren bewegt und dass Versorgungsengpässe uns bald stark zu schaffen machen könnten. Warum ist das so?
Abholzen statt Nachpflanzen
Personalengpässe sind bereits jetzt unser grösstes Problem. Unverständlich, dass unter diesen Umständen jemand über einen Zulassungsstopp überhaupt nur nachdenkt. Nebst dem unmittelbaren Schaden durch solche unnatürliche Beschränkungen vergällt man dem Nachwuchs die Motivation zum Einsteigen in den Arztberuf. Im Bild des Waldes gesprochen wäre das etwa so: Es gibt keinen Jungwald in den Schneisen, aber statt solchen zu pflanzen, holzt man auch noch die grossen Bäume ab und macht zusätzliche Schneisen. Das Paradox ist dermassen offensichtlich, dass man sich fragt, wer hier eigentlich ein Brett vor dem Kopf hat.
Ein Baum wie der andere?
Keiner Forstverwaltung käme es in den Sinn, jeden Baum, der für Brennholz geschlagen wird, zum gleichen Preis anzubieten. Die tatsächliche Menge Brennholz ist am Schluss entscheidend. Aber seit wir die DRG haben, ist ein Blinddarm ein Blinddarm und ein Hüftgelenk ein Hüftgelenk; als gäbe es keine Unterschiede bezüglich Alter, Komorbiditäten und individueller Besonderheiten, ja, so als gehe es gar nicht mehr um den Menschen, sondern nur noch um die Krankheit. Der Betreuungsaufwand soll für jeden genau gleich sein? «One size fits for all»? Da macht entweder die Institution finanziell rückwärts oder die Qualität leidet. Ob das gar der Grund ist für die zunehmenden und lästigen «Qualitätskontrollen»?
Der Förster auf dem Sozialamt
Man stelle sich vor: Der Förster soll die gleiche Arbeit machen wie immer und er soll sie auch gleich gut machen wie immer; nur soll er sie schneller machen und weniger Lohn dafür bekommen. Irgendwann landen da auch die tüchtigsten und motiviertesten Arbeiter bei der IV oder auf dem Sozialamt. Und wer wollte unter solchen Bedingungen überhaupt noch Förster werden?
Nur im Gesundheitssystem soll dieses Modell auf wundersame Art und Weise funktionieren. Kosten sparen ohne Leistungs- und Qualitätseinbusse. In solchen Gedankenkonstrukten ist definitiv der (Holz-)Wurm drin.
Baumplantagen und Borkenkäfer
Wenn ich zwischen Venedig und Triest unterwegs bin, sehe ich riesige Baumplantagen, die mit der Messschnur gepflanzt sind. Es sind keine Wälder, sondern Monokulturen. Es fehlt das Unterholz, die Verschiedenheit, eigentlich alles Wesentliche. Planung und Kontrolle bestimmen zunehmend das Gesundheitswesen. Dies ist mit ein Grund, warum der Datenhunger des Staates und der Krankenkassen keine Grenzen kennt. Alles muss dokumentiert werden, was sinnlos Kräfte bindet. Aber vielleicht noch schlimmer: Dokumentiertes ist leichter kontrollierbar. Ob das der tiefste Abgrund ist, der sich hinter der systematisch verfehlten Gesundheitspolitik verbirgt?
Benutzerfreundliche digitale Lösungen können einer Arztpraxis viel Aufwand ersparen. Sobald die Daten aber die Praxisräume verlassen sollen, wird es gefährlich. Die zentrale medizinische Datensammlung Deutschlands, genannt «gematik», wirbt für sich so: «Für gematik dürfen Sie das Arztgeheimnis vergessen.» Sie garantiert: Wer mitmacht, haftet weder zivil- noch strafrechtlich. Anonymisierung soll den Datenschutz sicherstellen. Aber es gibt keine digitalen Geheimnisse und die KI birgt unheimliche Möglichkeiten in sich. Hier frisst sich – noch weitgehend unbemerkt – der Borkenkäfer durch das Arztgeheimnis. Sein lateinischer Name ist «Ips typographus», der «Buchdrucker». Der «Ips digitalis» scheint mir weit gefährlicher zu sein. Ist ein Geheimnis digital einmal ausgeplaudert, lässt es sich nie mehr zurückholen. Da war
die handgeschriebene Akte im Schrank doch sicherer.
Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg
Sehen die, die ständig ins Gesundheitssystem eingreifen, denn nicht ein, dass sie damit auf dem Holzweg sind und zu keinem Ziel kommen? Können so viel Kurzsichtigkeit und Dummheit wirklich sein? Oder ist es am Ende schlimmer? Will man überhaupt ans Ziel kommen? Und falls ja: an welches?
Dr. med. Karin Hirschi-Schiegg,
Mitglied der Redaktion Synapse