«Am meisten Respekt hatten wir vor einem anaphylaktischen Schock nach den Impfungen»

Überraschung zum Silvester 2020
Im November 2020 verdichteten sich die Hinweise, dass bald Impfstoffe gegen Corona zur Verfügung stehen würden. Der Krisenstab BL trat in Aktion und begann mit der Planung der Impfzentren (IZ). Da dort sicher auch Ärztinnen und Ärzte benötigt wurden, meldete ich mich bei Martin Brack (Leiter IZ Lausen), bot tageweise meine Dienste an, da ich per 1.1.2022 meine Praxis an meinen Sohn übergeben konnte.
Am Abend des 30.12.2020 kam ein Anruf von Sam Erny mit der Frage, ob ich als ärztlicher Leiter für die Impfzentren BL zur Verfügung stehen könnte. Ich bat um Bedenkzeit. Gegen 22.00 Uhr kam erneut ein ­Anruf, ob ich mich entschieden hätte. Ich beantragte ein Gespräch für nähere Infos, am 31.12.2020 traf
ich mich mit Sam Erny und Karl Birthistle auf der VGD unter strenger Maskenpflicht.
Ich erfuhr einiges, aber wenig zu konkreten Auf­gaben, es gab weder Pflichtenheft noch Arbeits­beschrieb. Aufgrund der damaligen gesundheitlichen Notlage und da ich meine vermeintliche Freizeit ab Januar füllen musste, stimmte ich zu. Über Arbeits­zeiten, Arbeitsvertrag, Anstellungsdauer, allfällige Entschädigung usw. wurde kein Wort verloren.
Am 2.1.2021 ging es los mit Rapport in Liestal und Besichtigung der Halle Feldreben in Muttenz. Zwei Tage später begann ich meine Tätigkeit. Eine Infrastruktur gab es mit Notfallraum, den notwendigen Hilfs­mitteln, einem Defibrillator, Sauerstoff und einem bescheidenen Medikamentensortiment. Es fehlte aber noch an vielem, was innert kurzer Zeit beschafft werden musste. Ich stellte ein Notfallkonzept auf für die Impfzentren und die mobilen Equipen.

Wie werden die Impfstoffe vertragen?
Am meisten Respekt hatten wir vor einem gefürchteten anaphylaktischen Schock nach den Impfungen. Es hatte ja noch niemand grosse Erfahrungen mit den mRNA-Impfstoffen. Die Tage vergingen, es passierte nichts oder ganz wenig. Es gab Rückmeldungen über lokale Reaktionen, Hautausschläge, Allgemeinreak­tionen. Aber nichts Ernsthaftes. Zum Teil kamen die betroffenen Personen ins IZ zurück, um ihre Befunde zu melden, und mit Erwartung nach Hilfestellung. Was war das Beste? Selbstversuch mit einer Impfung. Da nichts geschah, stieg auch mein Vertrauen in die Impfstoffe. Da zu Beginn die Impfstoffe so rar waren, suchten wir jeden Abend Personen zum Verimpfen der Restdosen, was viel Zeit und personelle Ressourcen benötigte.

Das Jahr 2021
Wochen später eröffnete das IZ Lausen, dann Laufen. Es gab viel Arbeit mit Instruktion an die Kolleginnen und Kollegen, Kontrollen, Qualitätsverbesserung, ­Optimierung der Prozesse, es tauchten neue Problem auf wie Umgang mit Stichverletzungen von Personal, Verwechslung der mRNA-Impfstoffe bei der 2. Impfung, Anfragen für Impfungen zuhause bei immobilen Patienten und vieles mehr.
Schon in der ersten Woche gab es ­einen Todesfall, wenige Tage nach der Impfung; später ein Todesfall nach ­einem Herz-Kreislauf-Stillstand wenige Minuten nach der Impfung. Die Ab­klärungen – das IRM wurde jeweils beigezogen – ergaben aber immer keinen Zusammenhang mit den Impfungen.
Der Run auf die Impfungen war gross, verschiedentlich mussten wir Per­sonen wegweisen, die sich auf unrechtmässige Art ­einen Termin verschafften. Das brauchte viel Nerven und Zeit, die Security musste ganz selten beigezogen werden.

Reminiszenzen
Anlässlich der 50’000. Impfung planten wir eine ­Aktion mit Besuch von Regierungsrat Thomas ­Weber, die Presse war nicht eingeladen. Aber ein Foto kursierte bald in den Social Media, der ärztliche Leiter trug seine Maske falsch. Prompt erschien das Bild dann in einer Zeitung, die Reaktionen waren heftig, aber für manche Person auch ein guter ­Hinweis, wie die Maske richtig zu tragen sei. An­fragen für Impfungen von Grenzgängern häuften sich, Gesuche für ­Angehörige aus der ganzen Welt, «sans papiers» erschienen. Es gab Personen, die sich in Basel zweimal impfen liessen, dann den Wohnort wechselten und sich bei uns auch nochmals zweimal impfen lassen wollten. Das entdeckten wir nur per Zufall und die Antwort der Betroffenen lautete: ­Erhöhung der Impfsicherheit. Wir mussten in der Folge das interne Controlling deutlich ausbauen. Viel Wirbel gab es zu Beginn mit dem Nachtragen der Impfausweise, aber auch da fanden wir eine pragmatische Lösung.

Wie ging es weiter?
Die Impfstoffe erwiesen sich als sicher, Komplikationen gab es fast keine. Insgesamt betreuten wir ärztlich etwa 300 Personen am IZ Muttenz, dies nach 300’000 Impfungen. Pro 1000 Impfungen also ein Zwischenfall, das entspricht dem Schweizer Durchschnitt, meistens handelt es sich dabei um vasovagale Beschwerden, und Hospitalisationen aus dem IZM gab es weniger als 10 in 17 Monaten. Im Sommer 2021 gingen die Impfzahlen zurück, um dann kurz vor Weihnachten mit den Booster-Impfungen erneut zu explodieren, fast 3000 Impfungen pro Tag waren keine Seltenheit.
Gegen 70 Prozent der Bevölkerung ist geimpft, all ­unsere Bemühungen, die Impfrate zu verbessern, brachten wenig. Die Impfwoche mit Radiotag, Impfschiff, Impfen in den Gemeinden, Impfnacht am IZM und andere Aktionen strapazierten unsere organisatorischen Fähigkeiten, der Ertrag war aber marginal. Zusätzliche Impfstoffe erschienen auf dem Markt. Ab Januar 2022 konnten wir Kinder ab 5 Jahren impfen, wir durchlebten die Omikronwelle, heute impfen
wir noch 100 bis 120 Personen pro Woche. Vermehrt kommen nun Anfragen wegen der zunehmenden ­Reisetätigkeit der Bevölkerung und des Ablaufs der Zertifikate im Augst 2022.

Und ab Sommer 2022?
Am 30.6. 2022 schliesst das IZM. Der Kanton übergibt das Impfen an eine private Organisation mit einem IZ an einem neuen Ort. Man darf eine Empfehlung des BAG erwarten, dass im Herbst 2022 einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ein zweiter Booster empfohlen wird (z. B.: Chronischkranke, Immunsupprimierte, ­gesamte Bevölkerung >65). Möglicherweise stehen Fertigspritzen zur Verfügung, modifizierte mRNA-Impfstoffe, zusätzliche Impfstoffe. Vielleicht werden wir mit neuen Subtypen des Corona-Virus konfrontiert, ­meiner Auffassung nach wird uns COVID noch längere Zeit begleiten und stets zu neuen Herausforderungen führen.

Dr. med. Hans Vogt

Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin und war von 1988–2020 Hausarzt in Liestal. Zudem ist er ärztlicher Gesamtleiter des Impfzentrums Basel-Land sei 2021.