Darf’s es Bitzeli meh sy?

Gemäss der von der Schweiz mitunterzeichneten «Erklärung von Mailand» soll der Zuckerkonsum bis Ende 2024 um 10% gesenkt werden. Genügt das?

Es gehört zu meinen Kindheitserinnerungen, wie wir im kleinen Lebensmittelladen vor der Theke standen, hinter der all die verlockenden Waren in Regalen aufgebaut waren, gesichert vor dem direkten Zugriff der Käufer (und insbesondere vor neugierigen Kinderhänden). Dort befand sich auch das Revier der flinken Verkäuferin, die mit unglaublicher Treffsicherheit die gewünschten Waren hervorholte. Gewisse Dinge mussten gewogen werden. Dabei landete meist ein klein bisschen mehr auf der Waage, als verlangt worden war. «Darf’s es Bitzeli meh sy?», fragte dann die dienstfertige Verkäuferin mit einem gewinnenden Lächeln, was den meisten Kunden ein höfliches Ja entlockte. Um wie viel das «Frölein» (wie die weiblichen Angestellten damals noch genannt wurden) im Laufe eines Tages auf diese Weise den Umsatz zu steigern vermochte, bleibt wohl ein Geheimnis.

«Darf’s es Bitzeli weniger sy?», könnte man aus der «Erklärung von Mailand» herauslesen, die kürzlich vom BLV bzw. von Bundespräsident Alain Berset unterzeichnet wurde (1) mit dem Titel: «Bedeutende Erweiterung der ‹Erklärung von Mailand›».

Allerlei Interessantes ist dieser Mitteilung zu entnehmen:

Der Durchschnittsschweizer konsumiert pro Tag ca. 100 g Zucker (entsprechend ca. 25 Stück Würfelzucker), davon gut einen Drittel in Form von Süssgetränken. Das sei doppelt so viel, wie die WHO «empfehle». Auf deren Website (2)
ist tatsächlich von «recommendations» die Rede (sogar von «strong recommendations»; ob der Ausdruck «Warnung» vielleicht angemessener wäre?). Die WHO spricht dort vom zusätzlichen Nutzen, würde man die Zuckermenge nochmals halbieren, das wären dann ca. 25 g Zucker pro Tag oder immerhin noch etwa 7 Würfelzucker. Zucker aus Fruchtsäften usw. ist dabei noch gar nicht berücksichtigt, denn dieser sei nicht schädlich (die Leber kann also unterscheiden zwischen einem Fruktose-Molekül aus einer Frucht und industriell hergestellter Saccharose?).

Gänzlich unerwähnt bleiben genetische Unterschiede zwischen den Völkern. Ein Blick darauf, wie sich unsere Urgrosseltern ernährten, würde wohl dem am nächsten kommen, was wir in Mitteleuropa an Zucker genetisch verkraften und was infolgedessen noch als «gesund» gelten kann. Um 1900 enthielt ein Kuchen (500 g) laut einem damaligen Rezept 1 (einen) Teelöffel Zucker. Das empfand man als süss. Da wäre wohl auch noch dringelegen, wenn die Hausfrau sich gefragt hätte: «Darf’s es Bitzeli meh sy?»

Unsere Nahrung enthielt vor dem Aufkommen der Zuckerindustrie ca. 3–5 g Zucker pro Tag.

Alles, was mehr ist, dürfte für uns von Übel sein bzw. mitbeteiligt am Zunehmen von Fettleibigkeit, von Herz-Kreislauf-Störungen oder von Diabetes Typ 2. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Gesundheitsschäden wird in der Mitteilung jedenfalls zugegeben.

Die Pressemitteilung vom 14.2.2023 zählt am Schluss die Firmen auf, die sich freiwillig zu «darf’s es Bitzeli weniger sy?» verpflichten. Konkret heisst das, dass der zugesetzte Zucker bis Ende 2024 um 10% reduziert werden soll. Also von 25 auf ca. 22 Würfelzucker pro Tag bzw. von 100 g auf 90 g Zucker pro Tag. Das ist, kurz zusammengefasst, die «bedeutende Erweiterung der ‹Erklärung von Mailand›». Hier von einem halbherzigen Vorgehen zu sprechen, wäre wohl beschönigend!

Literatur

(1) Pressemitteilung vom 14.2.2023:
https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/dokumentation/nsb-news-list.msg-id-93058.html

(2) https://www.who.int/news/item/04-03-2015-who-calls-on-countries-to-reduce-sugars-intake-among-adults-and-children

Dr. med. Karin Hirschi-Schiegg

Mitglied der Redaktion Synapse