Ärztliche Erfahrung einbringen

Der Kostendruck auf die öffentliche Hand nimmt zu. Dieser überträgt sich auf diejenigen Bereiche, die teuer sind – und das ist die Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier versuchen deshalb, das Kostenwachstum zu steuern. Das ist ihre Aufgabe. Unsere ärztliche Aufgabe ist es, den politischen Entscheidungsträgern zu zeigen, welche Massnahmen helfen und welche schaden – anhand unserer praktischen Erfahrung im direkten Kontakt mit den Patientinnen und Patienten. Das ist das Ziel der Kampagne, die durch die Berner Ärztinnen und Ärzte initiiert wurde.

«Ich will von meinem Arzt nicht als Kostenfaktor betrachtet werden.»

Den medizinischen Fachpersonen Kostenziele vorzugeben, tönt ebenso verlockend, wie unnötige Behandlungen zu verhindern. Politisch vorgegebene Kostenziele schiessen aber am Ziel vorbei und unterstützen einen Trend, welcher die Qualität der medizinischen Behandlungen verschlechtert und somit den Patientinnen und Patienten schadet. Kostenziele können nur mit hohem Verwaltungsaufwand und pauschalisiert errechnet werden. Bereits jetzt muss eine junge Spitalärztin den grössten Teil ihrer Zeit hinter dem Computer verbringen statt am Bett des Patienten, obwohl wir wissen, dass eine gute therapeutische Beziehung die beste Medizin darstellt. Pauschalisierte Kostenziele ignorieren, dass Menschen keine Maschinen, sondern Individuen sind, und Patientinnen und Patienten je länger je mehr auf eine auf sie persönlich abgestimmte Behandlung angewiesen sind. Ob eine Behandlung notwendig ist oder nicht, entscheidet die Ärztin in der Begegnung mit dem Patienten gemeinsam. Was für eine Person richtig und notwendig ist, kann für die zweite falsch und schädlich sein. Gerade deshalb spricht man von ärztlicher Kunst und von «shared decision making».
Zwei Hauptmotive bewegen Studierende, sich für das Medizinstudium zu entscheiden: der Wunsch, Menschen zu helfen, und naturwissenschaftliches Interesse. Die ärztliche Kunst verbindet die Fähigkeit der Pflege der therapeutischen Beziehung zu den Patientinnen und Patienten mit den wissenschaftlich abgestützten intellektuellen und handwerklichen Fähigkeiten, die in einem langen Studium und einer mehrjährigen Weiterbildungsphase erlernt werden. Um ihre hohe Motivation für diesen Kernberuf halten zu können, brauchen insbesondere die jungen Ärztinnen und Ärzte gute berufliche Rahmenbedingungen und motivierte Vorbilder. In den letzten Jahren wurde der Berufsalltag zunehmend belastet mit ineffizientem Verwaltungsaufwand und berufsfremden politischen Eingriffen in die ärztliche Tätigkeit.

«Ich wehre mich, meine Patienten als Kostenfaktoren zu behandeln.»

Es muss uns gelingen, der Bevölkerung aufzuzeigen, dass Patientinnen und Patienten und medizinische Fachpersonen im Zentrum jeder Gesundheitsversorgung stehen. Jede und jeder von uns kann schon morgen selbst betroffen sein und hat gemäss Bundesverfassung ein Recht auf eine qualitativ hohe Gesundheitsversorgung, auch wenn sie teuer ist. Dafür brauchen die Gesundheitsfachpersonen Strukturen, die sie in ihrer Professionalität stärken. Dafür stehen wir ein!

Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH

(Dieser Text ist erstmals in der Schweizer Ärztezeitung Nr. 37 vom 14.9.22 erschienen)

Dr. med. Yvonne Gilli

Präsidentin der FMH