Wie weiter mit dem Gesundheitswesen?

Lassen Sie uns zum Jahresende für einen Moment aus der Hektik des politischen Alltags aussteigen, einen Schritt zur Seite machen und uns den Betrieb des Schweizer Gesundheitswesens mit einer gewissen Distanz betrachten, um den Blick auf das grosse Ganze und auf den Kern ­unserer ärztlichen Tätigkeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Wir haben im vergangenen Jahr immer wieder – auch hier in der Synapse – auf verschiedene Missstände und Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen aufmerksam gemacht, wir haben über die Fehler im System, über Bürokratie und Fehlanreize berichtet, über die unsägliche Tabak-Lobby und ihren Einfluss im Parlament. Wir haben die steigenden Gesundheitskosten ins Verhältnis zu den steigenden Prämien gesetzt und damit relativiert. Wir haben festgestellt, dass die alljährliche Prämienerhöhungs-Pressekonferenz des Bundesrates im Herbst inzwischen zu einem unwürdigen Empörungsritual verkommen ist, das regelmässig zu den immer­gleichen Reflexen und Aktivitäten führt, die ebenso konstant ins Leere laufen.

Wir haben uns immer wieder Fragen gestellt. Zum Beispiel: Wie müssen wir unser Gesundheitssystem verändern, damit wieder die Patientinnen und Patienten im Vordergrund stehen? Und wie muss es organisiert sein, damit Ärzteschaft und Pflege dieses Ziel optimal erreichen können? Ist unser Gesundheitssystem überhaupt noch steuerbar? Oder reguliert es sich selbst? Sind die Kosten wirklich zu hoch? Und warum wird so wenig über den Nutzen gesprochen? Vor allem aber haben wir uns gefragt:

Was läuft schief?
Wir sind bei der Analyse und bei der Suche nach den Antworten im Wesentlichen zur Haupt­erkenntnis gelangt, dass die aktuelle Gesundheitspolitik die Patientenversorgung akut bedroht, und zwar primär aus folgenden Gründen:

• Es fehlen (zu) viele Fachkräfte, in den Spitälern ebenso wie in den Praxen. Die Nachwuchs­förderung wurde sträflich vernachlässigt, sowohl bei der Ärzteschaft als auch in der Pflege. Die Fachkräfte gehen uns aus, bevor uns das Geld ausgeht.

• Die Medikamentenversorgung ist nicht mehr gewährleistet. Das betrifft neben den Medikamenten Impfstoffe und neu auch Medi­zinalprodukte.

• Eine überbordende Bürokratie zerstört durch immer mehr sinnlose administrative Zusatz­arbeit die intrinsische Motivation aller Medi­zinal- und Gesundheitsberufe und macht sie unattraktiv. Dazu kommen immer mehr Kon­trollen und Expertisen, die die Handlungsmöglichkeiten der Ärztinnen und Ärzte und der Pflege gegenüber dem Patienten einschränken, zynischerweise auch noch unter dem Vorwand der Qualitätsverbesserung.

Eine ständige, emotional und unsachlich geführte Prämien- und Kostendiskussion diskreditiert den Nutzen der Medizin und führt letztlich zu einer verheerenden «Ökonomisierung der Medizin».

• Der volkswirtschaftliche Nutzen der Medizin ist gross, wird aber selten entsprechend gewürdigt.

• Das hat u. a. katastrophale Auswirkungen auf die Perspektiven einer neuen Generation von Ärztinnen und Ärzten. Sie erleben und er­fahren, dass ökonomische Entscheidungen die medizinischen übersteuern und sie das Pa­tientenwohl und sich selbst diesen unterordnen müssen.

• Durch eine praxisferne Über- und Mikroregulation hat die Gesundheitspolitik dem Gesundheitswesen die Krisenresistenz genommen. Dazu kommt ein Lobbyismus, der die Partikularinteressen stärker gewichtet als das Gemeinwohl.

• Die durch die Gesundheitspolitik und santé­suisse über Jahre hinausgeschobene und verzögerte Einführung des TARDOC kostet uns relevante Summen und gefährdet die Ver­sorgungssicherheit, da insbesondere die paramedizinischen Berufe ihre Tätigkeit nicht zu zeitgemässen Bedingungen ausüben können.

So weit unsere kurze Bestandsaufnahme, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Wie konnte es so weit kommen?
Es genügt nicht, bei der Auflistung von Mängeln zu verharren. Es geht um die Verbesserung und Optimierung unseres Gesundheitssystems. Und die beginnt mit der Frage nach den Ursachen des gegenwärtigen Malaises. Wie konnte es so weit kommen?
Eine der besten Analysen zu diesen Fragen hat aus unserer Sicht der Medizinethiker Prof. Dr. med. Giovanni Maio (Uni Freiburg) gemacht, der in den letzten Jahren mehrmals in der Synapse zu Gast war, als Autor und Interviewpartner. Er plädiert im Wesentlichen für eine Rückbe­sinnung der Ärztinnen und Ärzte auf ihre Kernkompetenzen:

• Die Kernqualifikation eines Arztes liegt im gekonnten Umgang mit Komplexität, in der Bewältigung von Unsicherheit, im professionellen Umgang mit Unwägbarkeiten und durch diese Qualifikationen hindurch letzten Endes in der sorgsamen Erkundung dessen, was für den konkreten Patienten das Beste ist.

• Zur ärztlichen Logik gehört nicht primär ­Effizienz, Output und Beschleunigung, sondern Sorgfalt, Ruhe, Weitblick, Geduld und Reflexivität. Zur ärztlichen Logik gehört ein ganzheitliches Denken, ein Wille, zunächst den ganzen Menschen sehen zu wollen, bevor man als Arzt eine Diagnostik ansetzt.

Im Klartext: Der Patient, die Patientin muss zwingend im Zentrum der ärztlichen Tätigkeit stehen. Dazu braucht ein Arzt oder eine Ärztin einen Rahmen, der ihm oder ihr einen grösstmöglichen Ermessensspielraum lässt, um situa­tionsgerecht mit oder im Sinne der jeweiligen Patientin, des jeweiligen Patienten entscheiden zu können. Dieser Spielraum wird Ärztinnen und Ärzten heute durch zahlreiche starre bürokra­tische Regelungen weggenommen.

Je mehr die Medizin als industrieller Produk­tionsprozess betrachtet werde, sagt Maio, desto mehr werde ein Aktionismus gefördert, der das Machen belohne und das Zuhören bestrafe. Dabei werden Behutsamkeit und Sorgfalt als etwas angesehen, was den Betrieb stört. Die Ärzte werden dabei von den politischen Vorgaben auf die Rolle von Vollzugsbeamten reduziert.

Eine gute Medizin kann es nur geben, wenn sie auf Werte setzt wie Sorgfalt als Ergänzung zur Schnelligkeit, Geduld als Ergänzung zur Effizienz, Beziehungsqualität als Ergänzung zur Prozess­qualität.

Die Leistungen der Ärztinnen und Ärzte sind heute im Zuge der Industrialisierung der Medizin auf die dokumentierbaren Eingriffe fokussiert, was eine unzulässige Reduktion ihrer Arbeit darstellt. Denn die Tätigkeit des Arztes kann nicht einfach auf die Organisation eines reibungslosen Ablaufs reduziert werden.
Je mehr das System in die beschriebene indus­trielle Richtung drängt, desto mehr werden ­Ärztinnen und Ärzte vom System her abgehalten, sich um Patienten in komplexen Situationen zu kümmern. Dies ist jedoch genau das Gegenteil dessen, was wir in Zukunft brauchen, weil die Zukunft der Medizin eine Medizin der Komplexität sein wird.
Einen Schritt weiter als Prof. Maio geht Prof. ­Peter Pramstaller in seinem Buch «Rettet die Medizin» (siehe Buchbesprechung in dieser ­Synapse auf Seite 11). Er ist überzeugt, dass Ärzte auch im ökonomischen Bereich die Leitung übernehmen müssten, weil nur Ärztinnen und Ärzte den ganzen Behandlungsweg eines Pa­tienten im Detail kennten und wüssten, welche Massnahmen es für eine optimale medizinische Behandlung brauche. Pramstaller fordert die Ärztinnen und Ärzte auf, sich neben medizi­nischen Kenntnissen auch ökonomisches Führungswissen anzueignen, und er verlangt von den Universitäten eine entsprechend angepasste Aus- und Weiterbildung: Wir brauchen auch ökonomische und organisatorische Grundkenntnisse. Doch die werden weder angehenden noch bereits praktizierenden Ärzten syste­matisch vermittelt.
Pramstaller beobachtet eine Entwicklung, die auf einen Wendepunkt im Gesundheitswesen zusteuert … und es liegt an uns Ärzten, dafür zu sorgen, dass sich die Richtung ändert und sich die Medizin wieder ihrem Sinn- und Wesenskern zuwendet: der Verhinderung, Heilung und Linderung von Leiden.
Es waren im Kern Überlegungen dieser Art, die dazu geführt haben, dass wir im Herbst 2022 die Kampagne «Gemeinsam für ein Gesundheitswesen mit Augenmass» lanciert haben, an der unsere beiden Basler Ärztegesellschaften (MEDGES und AeGBL) federführend beteiligt sind.

Wesentliches von Unwesentlichem trennen
Wie eingangs erwähnt, soll dieser Text dazu dienen, den Blick auf das Wesentliche zu schärfen. Zum Wesentlichen gehört – trotz aller obgenannten Kritik – auch:

Die Schweiz hat ein nach wie vor hervorragendes Gesundheitswesen. Die Lebenserwartung gehört zu den höchsten der Welt.

Im internationalen Vergleich ist die von der Bevölkerung empfundene Qualität des Gesundheitssystems unübertroffen. Dazu hat vor allem auch die Medizin selbst viel beigetragen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Teil ­gewaltige Fortschritte gemacht hat, zum Vorteil der Lebensqualität aller Menschen, nicht nur der Patientinnen und Patienten.
Wer am Jahresende das grosse Ganze in den Blick nimmt, kommt allerdings auch nicht umhin, festzustellen, dass unser Planet gerade dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Da können wir als Schweizer Ärztinnen und Ärzte nur dankbar sein, in einem Land leben zu dürfen, das keine Schlachtfelder kennt, auf denen Tausende jeden Tag ihr Leben verlieren, in dem der Hass noch nicht mehrheitsfähig ist und in dem die Würde eines jeden menschlichen Lebens unantastbar ist.

Vor diesem Hintergrund möchten wir schliessen mit einem Zitat von Dr. Albert Schweitzer:
Ich bin Leben, das leben will, inmitten von ­Leben, das leben will.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen dankbaren und friedlichen Jahreswechsel und einen guten Start ins neue Jahr.