Wann ist ein Krieg zu Ende?

1990 begann im ehemaligen Jugoslawien ein Krieg, dessen Ursprung in die Zeit nach dem 1. Weltkrieg zurückreichte, als die Siegermächte mehrere ­eigenständige Länder in ein neues ­Staatengebilde hineinzwängten, die volksgeschichtlich keine Gemeinsamkeit hatten. Zwar waren die Sprachen ähnlich, aber die Mentalität dieser «Teilrepubliken Jugoslawiens» war so grundverschieden, dass die internen Spannungen nur durch gewaltsames Regieren einigermassen in Schach gehalten werden konnten.

Ich war während des Krieges immer wieder in Kroatien, unter anderem um ­humanitäre Hilfe und Medikamente zu bringen. Nach dem Krieg betreute ich kriegstraumatisierte bosnische Flüchtlinge, mehrheitlich Frauen, in der Schweiz. Da ich in der Psychiatrie arbeitete und Kroatisch sprach (Bosnisch ist ähnlich), konnte ich einen bescheidenen Beitrag leisten, wenigstens etwas von der grossen Not zu lindern. Die detaillierten Schilderungen der Kriegserlebnisse durch die betroffenen Frauen waren nichts für schwache Nerven, und auch meine Nerven waren nicht immer stark. Wenigstens war ich innerlich vorbereitet dadurch, dass ich die Ereignisse durch die Kriegsjahre eng mitverfolgt hatte.

Bald merkte ich: Für meine Patienten reduzierte sich die neuere Geschichte auf nur drei Abschnitte: vor dem Krieg, während des Kriegs und nach dem Krieg. ­Dabei war aber genau genommen für viele der Krieg noch nicht vorbei.

Die erste Erfahrung diesbezüglich machte ich bereits in meiner Unterassistenzzeit. Ich sollte die Anamnese bei ­einer älteren Dame erheben. Sie sprach gut Hochdeutsch mit einem osteuro­päischen Akzent. Kaum war das Wort «Rückenschmerzen» (der Hospitalisierungsgrund) gefallen, brach es wie ein Sturzbach aus ihr heraus: Wie sie als junge Frau, noch nicht erwachsen, fliehen musste, wochenlang, unter grössten Entbehrungen und Gefahren, zu Fuss, in ständiger Angst, ins Ungewisse, mit einem Koffer – da sei es doch keine Frage, warum ihr Rücken kaputt sei! Sie erzählte davon, als wäre es gestern geschehen. An jenem Abend ging ich nachdenklich und mit einer neuen ­Erkenntnis nach Hause: Der 2. Weltkrieg ist noch nicht zu Ende!

In den Augen ukrainischer Flüchtlinge sehe ich den gleichen Ausdruck, den ich aus dem Krieg in Kroatien und Bosnien kenne: eine Mischung aus Verstörtheit, Misstrauen, Angst und Hoffnungslosigkeit. Ich bedaure sehr, dass ich nicht Ukrainisch spreche. Ich habe es mit Kroatisch versucht, aber eine Unterhaltung ist nicht möglich, auch wenn beides slawische Sprachen sind.

Die Sprachbarriere macht uns oft hilflos, der Krieg selber macht hilflos, und auch Helfer lassen sich bisweilen von solchen Gefühlen erfassen und lähmen. Das gilt es zu überwinden. Auch wenn wir den Verlauf der Weltgeschichte nicht beeinflussen können, kann unser Engagement für Einzelne oder Gruppen doch sehr wichtig sein, und es braucht wenig, um ein Zeichen zu setzen. Wertschätzung zu vermitteln, ist auch ohne (grosse) Sprachkenntnisse möglich, und äussere Hilfe berührt auch innerlich, weil sie die Betroffenen erleben lässt: Man hat uns nicht vergessen.

Auch in Kroatien hat es aktuell Flüchtlinge aus der Ukraine. Diesen Sommer beschloss ich, die Flüchtlinge im Dorf, wo ich war, zu besuchen, auch wenn eine Unterhaltung wohl nicht möglich sein würde. Mit etwas Herzklopfen klingelte ich an der Tür, grüsste mit einem freundlichen «dobar dan» und streckte der Grossmutter, die mir öffnete, das Einzige entgegen, was ich auf Ukrainisch besass: eine Bibel. Vor vielen Jahren hatte sie mir jemand in Basel geschenkt. Lesen konnte ich sie nicht, aber vielleicht einmal ­weitergeben. Nun war der Moment gekommen.

Ein kurzes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Ukrainerin, dann kehrte ihr ­ursprünglicher skeptischer Gesichtsausdruck zurück. Sie blätterte hastig vor und zurück und las da und dort ein paar Zeilen. Als sie sich nach einer Weile davon überzeugt hatte, dass es tatsächlich ihre Muttersprache war, klappte sie das Buch sorgsam zu und strahlte mich an. Wortreich bedankte sie sich auf Ukrainisch (ich verstand zwar nichts, aber Gestik und Mimik waren eindeutig), und es fehlte wenig, dass sie mich umarmt hätte. Das Lachen verschwand nicht mehr aus ihrem Gesicht, bis sich die Tür schliesslich wieder schloss. Ein Gespräch war nicht möglich gewesen, aber offensichtlich hatte ich ihr, ohne es zu ahnen, einen Herzenswunsch erfüllt.

Am gesamten Elend des Krieges ändert das nicht viel, aber für diese Familie macht es einen Unterschied. Und es bleibt eine Begegnung, die ich nie vergessen werde.

Dr. med. Karin Hirschi-Schiegg

Mitglied der Redaktion Synapse