«Alle komplexen Systeme steuern sich selbst»

Eine Stärke des Schweizer Gesundheitssystems ist der fast uneingeschränkte Zugang der Patientinnen und Patienten zur Versorgung ungeachtet von Krankheit, Versicherungsform, Herkunft, Bildung oder Einkommen. Auch wenn in jüngerer Zeit Spitäler immer wieder Eingriffe infolge fehlender Fachkräfte oder Verlegungsmöglichkeiten verschieben müssen, haben Patientinnen und Patienten in der Schweiz (noch) keine grösseren Wartezeiten. Eine weitere Stärke ist die hohe fachliche Qualifikation in den Gesundheitsberufen sowie die (noch) gute Arbeitsmotivation der Berufspersonen, wobei sich hier Verschlechterungen ankünden.

Schwächen des hiesigen Systems, quasi die Kehrseite der oben beschriebenen Medaille, ist unsere ausgeprägte Abhängigkeit von ausländischen Berufspersonen, insbesondere im ärztlichen und im Pflegebereich, und dass wir in ländlichen bzw. alpinen Regionen mit zunehmenden Versorgungslücken zu kämpfen haben. Zudem: Der hohe Altersdurchschnitt in den allgemeinärztlichen Privatpraxen wird in den nächsten Jahren zu einer Krise führen. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten und insbesondere derjenigen mit Langzeit- und Mehrfacherkrankungen liegt die grösste Schwäche in den fragmentierten und wenig kohärenten Behandlungswegen. Auch wenn umliegende Gesundheitssysteme mit ähnlichen Problemen (Stichwort integrierte Versorgung) kämpfen, hat die Schweiz – beispielsweise im Unterschied zu den skandinavischen Ländern – einen massiven Rückstand. Das Chaos in der Digitalisierung im Gesundheitswesen erschwert die Situation zusätzlich. Der «freie Zugang» zu spezialisierten ärztlichen Leistungen verschärft zudem das erhebliche Koordinationsdefizit.

Eine der grössten Baustellen ist das inkohärente Vergütungssystem, das im ambulanten Bereich (Einzelleistungsvergütung) Mengenausweitung fördert und im stationären Bereich (DRG) wohl dazu führt, dass der grössere Teil der Spitäler wohl in nächster Zeit defizitär wird.

Die DRG-Vergütung unterstellt, dass bei den Spitälern Effizienzsteigerungsmöglichkeiten bestehen, die im Dienstleistungsbereich so nicht (mehr) gegeben sind. Einfach ausgedrückt: So wie der Coiffeur nicht beliebig schneller schneiden kann, kann das auch die Chirurgin nicht. Auch führt der Versuch, Effizienz vornehmlich über finanzielle Anreize zu optimieren, zu einem Qualitätsproblem. Wenn Produktivität nicht gesteigert werden kann, müssen Leistungen verdichtet bzw. abgebaut und auf Innovationen verzichtet werden. Das sollte eigentlich niemand wollen. Das Risiko des Qualitätsabbaus tragen die Patientinnen und Patienten sowie das Personal, bei dem sich ein gefährlicher Teufelskreis bemerkbar macht, indem Qualitätsabbau Frustrationen erzeugt, die zu Berufsausstiegen führen, die Wissensverluste bedeuten, was wiederum den Stress beim Rest des Personals erhöht und zu weiterem Qualitätsabbau führt. Ein klassischer Teufelskreis. Der ist nicht nur bei uns, sondern auch international zu beobachten, was den Problemgehalt dieser Entwicklung nur unterstreicht. Denn wer möchte von gestresstem und demotiviertem Personal betreut werden?

Bemerkenswerterweise sind die beschriebenen Entwicklungen grundsätzlich in allen westlichen Systemen zu beobachten. Immer wieder wird das Schweizer System – in Bezug auf die Kosten in Prozent des BIP – als das zweitteuerste der Welt ­aufgelistet. Die Schweiz ist allerdings auch eines der reichsten Länder der Welt. Wie in ­vielen Ländern bestehen die Probleme in sektoriell ­unterschiedlicher Unter- und Überversorgung, der Schwierigkeit, die Spezialisierung der Medizin zu integrieren oder die Behandlung chro­nischer Patientinnen und Patienten besser zu ­koordinieren und eine gelungene Digitalisierung voranzutreiben. Man kann an vielen Orten interessante Ansatzpunkte finden (z. B. in Dänemark bzgl. Spitäler, in Holland bzgl. Gatekeeping usw.), aber es existiert kein System, das per se als ­Modell tauglich wäre.

Alle komplexen Systeme steuern sich selbst, insofern ist das noch nichts Besonderes. Für unser Gesundheitssystem speziell ist allerdings, etwa im Vergleich zum Markt von Elektronikprodukten, dass sich hier mindestens vier Welten fortlaufend aufeinander beziehen bzw. voneinander abgrenzen: die Medizin (unterteilt in Betreuung und Behandlung), die Ökonomie und die Politik. Daraus folgt zweierlei. Erstens: Diese 4-Welten-Konstellation sorgt dafür, dass die Eingriffs­möglichkeiten der einzelnen Akteure begrenzter Natur sind und niemand das System allein determinieren kann. Zweitens, dass die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Welten dieses ­Systems entscheidend wären, bislang aber un­genügend Beachtung finden. Solange beispielsweise Krankenkassen administrativen Aufwand einfordern, um Leistungen kontrollieren zu können, und Spitäler interessiert sind, administra­tiven Aufwand zu betreiben, um höher vergütet zu werden, werden Medizinerinnen und Medi­ziner oder andere Fachkräfte mehr Administration betreiben müssen, als ihnen lieb und sinnvoll ist. Hier wären neue und bessere Lösungen zu suchen – an den Schnittstellen. Das könnte ­einen Unterschied machen.
Das ganze System «krankt» daran, dass die ­Akteure der einen Welt die jeweils anderen ­Welten als Problem ansehen.
Die einen meinen, die Politik reguliere zu viel, die anderen, die Leistungserbringer lieferten ungenügende Qualität, und nochmals andere, dass zu viel Administration verlangt werde.

Wenn unser parlamentarisches Milizsystem ­einen grundsätzlichen Unterschied machen würde, hätten andere Gesundheitssysteme wie der staatliche NHS in Grossbritannien oder die skandinavischen Länder nicht analoge Problemstellungen wie wir. Wichtig scheint uns, dass die Akteure stärker die Vielfalt der Welten bejahen und weniger in ihren eigenen Logiken verharren würden. Weder Politik noch Ärzteschaft noch die Ökonomie noch sonst jemand hat die Expertise, aus der heraus klar würde, wie dem ­System zu «helfen» wäre. Das Einzige, was klar ist, ist, dass es Foren braucht, in denen die verschiedenen Perspektiven miteinander produktiv werden können, ohne die Illusion aufkommen zu lassen, dass man deckungsgleich denken oder gleiche Interessen haben würde. Produktiv ist hier das wichtige Wort. Im Moment wird ja eher gegenseitig blockiert.

Die Aufgabe der Politik besteht darin, Rahmen zu setzen, zu Entscheidungen über gesellschaftliche An­sprüche und Prioritäten zu kommen und als ­Regulator entsprechende Leistungsaufträge zu vergeben und zu beaufsichtigen. Da spielen in erster Linie Versorgungssicherheit und -qualität sowie Zugang zu Gesundheitsleistungen eine Rolle, aber natürlich auch Kosten. Gleichzeitig werden Letztgenannte – wie im jüngsten Wahlkampf zu beobachten war – von Politikerinnen und Politikern und politischen Parteien gerne für ihre Zwecke instrumentalisiert, auch weil die Kopfprämien eine direkte Durchschlagskraft auf das Portemonnaie der Bürgerinnen und ­Bürger haben.
Weil alle Systemakteure davon ausgehen, dass sie wüssten, was richtig wäre, und natürlich auch ihre eigenen Interessen haben, darf nicht er­staunen, dass alle versuchen, ihre Ansichten via Lobbying einzubringen. Damit ist auch gesagt, dass Lobbying eine sehr grosse, um nicht zu ­sagen problematische Rolle spielt.

Bemerkenswerterweise nehmen alle Akteure, Leistungserbringer, Krankenkassen, Bund und Kantone, für sich in Anspruch, dass sie die Interessen der Patientinnen und Patienten vertreten. Gleichzeitig vertreten sie immer auch ihre jeweils eigenen Ansprüche. Nicht einmal die Krankheitsligen sind frei von Eigeninteressen. Erst in jüngerer Zeit haben sich in der Schweiz Pati­entenorganisationen wie beispielsweise die SPO etabliert, die sich zum Ziel setzen, ausschliesslich Patienteninteressen zu vertreten.

In allen Gesundheitssystemen ist ein ständiges Ringen um Einfluss zu beobachten und die Gewichte verschieben sich immer wieder neu. Während der Pandemie erfuhren beispielsweise Prävention und Public Health eine ungeahnte Priorität. Im Schweizer System scheinen uns bei allem Hin und Her vergleichsweise wenig Ungleichgewichte (oder auch konflikthafte Ver­härtungen) zwischen den Kräften vorhanden zu sein. So gesehen funktionieren unsere «Checks and Balances» gut. Die Kehrseite davon ist ein tendenzieller Stillstand, wenn wichtige Reformschritte anstehen, siehe integrierte Versorgung, ­kohärentes Vergütungssystem oder nützlich ausgestaltete Digitalisierung.

Die FMH «leidet» wohl wie alle Akteure im Gesundheitswesen an der Diffusität der Steuerung des Systems. Zum anderen hat die Ärzteschaft in den letzten Jahrzehnten ohne Zweifel Auto­nomieverluste hinnehmen müssen (aber davon führt kein Weg mehr zurück), und zum dritten ist sicherlich spürbar, dass an Motivationslagen der Ärzteschaft gekratzt wird. Das kann und soll Sorgen bereiten.

Es war und ist offenbar zu verführerisch, den ­nationalen Mangel durch die Abwerbung internationaler Kräfte kompensieren zu können. Aber das ist keine Dauerlösung. Sowohl dieses Pro­blem als auch der Hausärztemangel zeigen, dass nur in vernetzter Weise agiert werden kann. Das ist kein Planungsfehler eines einzelnen Akteurs. Es braucht eine Systemlösung, indem alle verschiedenen Akteure (Politik, Fakultäten, Krankenkassen, Leistungserbringer etc.) ihren Beitrag leisten müssen, um wirksame Reformen ein­zuleiten. Schliesslich kann man niemanden ­zwingen, Hausärztin oder Hausarzt zu werden. Es braucht ein ganzes ­Bündel an Massnahmen auf verschiedenen ­Ebenen, um die Situation zu verbessern, wie es dies beispielsweise der Kanton Bern mit einem entsprechenden Förderprogramm tut. Auch das ­sogenannte «Task-Shifting» weg von der Ärzteschaft zu anderen qualifizierten Gesundheits­berufen sollte sinnvoll vorangebracht werden.

Die Digitalisierung ist enorm wichtig, für Vernetzung wie Qualität wie Forschung, also schlicht unumgänglich. So wichtig das ist, so wenig werden sich die administrativen Aufwände dadurch verringern. Das ist die schlechte Nachricht dabei. Und der riesige Reformstau in diesem Bereich macht die Aufgabe auch nicht einfacher.

Prof. Marcel Zwahlen

Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin an der Univer­sität Bern.

PD Dr. Peter Berchtold

Studienleiter MAS «Leading Learning Healthcare Organisations», Universität Bern

Dr. Christof Schmitz

Studienleiter MAS «Leading Learning Healthcare Organisations», Universität Bern

Sie haben die Antworten zu diesem Interview zu dritt im Konsens erarbeitet.
Die Fragen stellte Bernhard Stricker, Redaktor Synapse