Werfen wir die Flinte ins Korn – ein Gastkommentar

Über den Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Systemen.

Nichts zu machen, es ist aussichtslos. Das Gesundheitswesen lässt sich nicht steuern. Es lässt sich nicht einmal kontrollieren. Das liegt nicht an der Unfähigkeit der Menschen, die ihr Bestes ­geben, um das System zu kontrollieren. Auch nicht am fehlenden Willen, das Steuer des ­Systems zu übernehmen.

Es liegt in der Komplexität des Gesundheitssystems, das von Natur aus nicht steuerbar und damit nicht kontrollierbar ist:

Zu vielfältig sind die Interessen der Stakeholder, zu verflochten die Abläufe, zu unterschiedlich die Ansprüche, zu kompliziert und komplex ist das System. Also nichts zu machen. Wirklich?
Die Unterscheidung von kompliziert und komplex ist im Zusammenhang mit dem Begriff ­System von entscheidender Bedeutung. Komplizierte Systeme wie beispielsweise eine Rakete sind zwar schwer zu verstehen, sind aber durch Regeln und Wissen nachvollziehbar. Der schöne Ausdruck «it’s not rocket science» ist eigentlich falsch: Rocket Science ist nachvollziehbar, kompliziert ja, aber durchschaubar.
Komplexe Systeme hingegen zeichnen sich durch eine grosse Anzahl Elemente, umfang­reiche Wechselwirkungen, Intransparenz und Zielkonflikte aus. Komplexe Systeme sind nicht reduzierbar und nahezu unüberschaubar. Beispiele für komplexe Systeme sind der Regenwald, das menschliche Gehirn oder eben das Gesundheitssystem.
Am Gesundheitssystem sind zahlreiche Akteure beteiligt, von Patientinnen und Bürgern über den Staat bis hin zu den Versicherungen und ­unterschiedlichsten Leistungserbringern. Die ­Interaktionen innerhalb des Systems sind umfangreich, miteinander verknüpft und bilden ­darüber hinaus eigene Sub-Netzwerke.
Das System ist offen. Es agiert mit weiteren gesellschaftlichen Systemen wie beispielsweise dem Wirtschaftssystem, dem Politiksystem und dem Wissenschaftssystem. Komplexe Systeme sind emergent. Sie entwickeln plötzlich neue ­Eigenschaften, die sich nicht aus der Summe der bestehenden Eigenschaften einzelner Akteure erklären lassen. Diese Komplexität, die Inter­dependenzen, die Fähigkeit, sich selbst zu or­ganisieren und weiterzuentwickeln, machen es schwierig und oft unmöglich, ein komplexes ­System zu durchschauen.
Die Betrachtung des Gesundheitssystems als komplexes System lässt erkennen, warum Kon­trolle und Steuerung des Systems so schwierig sind. Und erklärt auch, warum bisherige Änderungs- und Verbesserungsversuche nur geo­grafisch kleinräumig ausgerichtet waren oder auf einen klar definierten Bereich des Gesundheitswesens abzielten wie zum Beispiel auf ein Abrechnungsverfahren für eine Behandlungsmethode.
Solche Versuche basieren auf der irrigen Annahme, Fehler in komplexen Systemen wie ­Fehler in komplizierten Systemen zu korrigieren: auseinanderbauen, reparieren, zusammenschrauben. Dies mag bei der Rakete funktionieren, nicht jedoch bei einem komplexen System. Niemand ist allein «zuständig» für ein komplexes System, wie das Beispiel des Verhaltens von Vögeln in einem Schwarm veranschaulicht. Es kann daher weder top-down «geheilt» werden, noch ist eine einzelne Düse oder Schraube (single point of control) für das Funktionieren des Gesamtsystems zuständig.

Eine grundlegende Veränderung in einem komplexen System kann nur durch eine Gesamtsystemänderung herbeigeführt werden, wie sie in einem systemischen Ansatz zu finden ist.

Ein systemischer Ansatz trägt der Komplexität des schweizerischen Gesundheitssystems Rechnung und anerkennt, dass einzelne Akteure ­innerhalb des Systems nicht gesteuert und ­kontrolliert werden können.
Nur durch den Einbezug aller Akteure und ein gemeinsames Systemziel kann ein anpassungs- und widerstandsfähiges, finanziell und sozial tragbares und nachhaltiges Gesundheitssystem entwickelt werden. Für das Erreichen des Ziels stehen nicht die Kosten einer Aktivität im ­Vordergrund, sondern der Wert der Aktivität in Bezug auf das Ziel.
Die Aktivitäten der Beteiligten werden nicht kontrolliert, sondern der Wert der Aktivitäten wird belohnt, solange er dem gemeinsamen Ziel des Systems entspricht. Dies bedingt ein pro­fundes Verständnis des gemeinsamen Ziels und die Wertschätzung aller Systembeteiligten. ­Daher spricht der systemische Ansatz weniger von Steuerung und Kontrolle als von Designing oder Gestaltung.
Erst wenn wir die systemische Natur des Gesundheitswesens akzeptieren, können wir be­ginnen, es zu gestalten, anstatt zu kontrollieren. Wir können es gemeinsam weiterentwickeln, statt brachial zu versuchen, das System in eine Richtung zu steuern. Komplexe Systeme lassen sich eben nicht steuern. Diese philosophisch anmutende Betrachtungsweise des Systems führt dazu, dass die Beteiligten das System, die Ziele und die Auswirkungen des eigenen Handels ­verstehen, schätzen und Anreize haben, diese zu verfolgen.
Es ist eine grosse Herausforderung, die radikale Neugestaltung des Gesundheitswesens anzu­packen. Doch in der System-, Transformations- und Change-Forschung gibt es validierte und ­innovative Ansätze, die herbeigezogen werden könnten, um die Komplexität zu bewältigen, siehe zum Beispiel Systemic Innovation, Systemic Design. Die Forschungsmethoden beruhen auf partizipativen Modellen, langfristigen Prozessen, dem Einbezug aller Systemakteure, der Erleichterung interdisziplinärer Interaktionen und der Incentivierung von Innovation.

Diese neue Denk- und Betrachtungsweise eines systemischen Ansatzes könnte als Richtschnur für die Transformation des Gesundheitswesens dienen. Einen Versuch wäre es wert, bevor wir die Flinte endgültig ins Korn werfen.

(Dieser Text wurde erstmals publiziert in Medinside am 16.6.2023)

Prof. Dr. Sabina Heuss

School of Business, Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), Muttenz