«Schliesslich hat niemand von uns Medizin studiert, um 80% der Zeit hinter dem Bildschirm zu verbringen»

Eine vom Verband der Schweizer Medizinstudierenden (swimsa) durchgeführte Umfrage unter 2300 Medizinstudierenden hat ergeben, dass sich ein Drittel der angehenden Ärztinnen und Ärzte nach den ersten Praxiserfahrungen ernsthaft ­überlegt, den Beruf aufzugeben. Grund dafür sind die erlebten Arbeitsbedingungen.

Synapse: Gemäss Ihrer aktuellen swimsa-Umfrage überlegen sich 33% der Medizin­studierenden nach den ersten Praxiserfahrungen im Spital aus dem Beruf auszusteigen. Wie interpretieren Sie dieses Resultat? Haben Sie das erwartet? Oder waren Sie überrascht?

Valeria Schweiwiller: Vor Erstellung der Umfrage habe ich im Gespräch mit Studienkolle­ginnen und -kollegen bereits festgestellt, dass es einige Personen gibt, die Mühe mit den Bedingungen und dem Arbeitsalltag in der Klinik hatten. Nach Auswertung der Umfrage war ich vor allem beunruhigt, dass die Prozentzahl derjenigen Studierenden so hoch ist, die sich längerfristig nicht vorstellen können, im Beruf zu bleiben. Für mich war dann klar, dass wir nun gemeinsam etwas am System verändern müssen, damit wir die angehenden Medizinerinnen und Mediziner nachhaltig und langfristig im Beruf behalten können.

Ihre Umfrage zeigt auch, dass es bei den Studierenden eine Art «Realitätsschock» zwischen Theorie und Praxis gibt, sobald diese nach der theoretischen Ausbildung in den praktischen (Spital-)Alltag eintauchen. Ist das ein Problem der Ausbildungsstruktur? Oder ist das typisch für die Generation Z (die Befragten gehören wie Sie zur sog. Generation Z)?

Aus unserer Umfrage lässt sich nicht heraus­lesen, aus welchem Grund dieser sogenannte «Realitätsschock» entsteht. In den letzten ­Jahren hat sich die universitäre medizinische Ausbildung gewandelt zu einer verstärkt praxisbezogenen Ausbildung. Dies ist eine äusserst ­erfreuliche Entwicklung für die medizinische Ausbildung in der Schweiz. Als Unterassistentin oder Unterassistent arbeitet man meistens eng mit einer Assistenzärztin oder einem Assistenzarzt zusammen und kriegt hautnah die Ineffi­zienz, die hohe Bürokratielast und die anspruchsvolle ­Belastung des Berufes zum ersten Mal mit. Hierbei erwähnt werden muss, dass ­unsere Generation digital vernetzt aufgewachsen ist und beim Arbeitsantritt in vielen Kliniken schnell das Gefühl aufkommt in der digitalen Steinzeit gelandet zu sein. Dies ist für viele frustrierend, schliesslich hat niemand von uns Medizin studiert, um 80% der Zeit hinter dem Bildschirm zu verbringen, Medikamentenlisten anzufordern, Diagnose­listen abzutippen, Dokumente einzuscannen etc. Durch das Wahlstu­dienjahr erhalten die ­Studierenden Einblicke in verschiedene Kliniken, die alle mehr oder weniger das gleiche ernüchternde Bild vermitteln: mangelnde Digitalisierung und hohe Arbeits­belastung der jungen ­Assistenzärztinnen und -ärzte. So fragen sich ­einige Studierende verständlicherweise, wie sie die anderen Lebens­bereiche wie Forschung, Freunde, Freizeit oder Familienplanung unter einen Hut bringen sollen. Insbesondere die Unberechenbarkeit und In­flexibilität des ärzt­lichen Alltages macht es schwierig, die vielen ­Lebensbereiche zu ver­einen. Ich denke, dass sich unsere Generation – unabhängig von der Branche – ihres Werts bewusst ist und weiss, was sie sich als sinn-
stiftenden Beruf wünscht, weshalb sie sich intensiv mit ihrer Lebens- und Zukunftsplanung beschäftigt.

Sie fordern die politischen Entscheidungs­träger in der Schweiz auf, sofort Massnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen des ärztlichen Berufes zu ergreifen. Was heisst das konkret? Welches sind für Sie die wichtigsten Massnahmen?

Wir haben vier Massnahmen gefordert:

1) Verbesserung der Rahmenbedingungen: Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts und sukzessive Reduktion der effektiven wöchent­lichen Arbeitszeit für Assistenzärztinnen und -ärzte.

2) Reduktion der bürokratischen Tätigkeit von Ärzten und Ärztinnen.

3) Ermöglichen von flexiblen Arbeitsmodellen (insbesondere Teilzeitarbeit).

4) Digitalisierung und Harmonisierung: Priorisierung der Digitalisierung und Harmoni­sierung des schweizerischen Gesundheits­systems, um Ineffizienzen des Sektors zu überwinden.

Ihre Umfrage bestätigt einen Trend, der durch andere ärztliche Berufsverbände bereits nachgewiesen wurde. 2016 meldete der VSAO, dass jeder zehnte Arzt oder jede zehnte Ärztin den Beruf vorzeitig verlassen will. Eine aktuelle Studie der FMH zeigt zudem, dass ein noch grösserer Teil der Ärzteschaft einen Ausstieg in Betracht zieht. Was ziehen Sie daraus für Schlüsse?

Durch den demografischen Wandel ist die Schweiz auf alle Gesundheitsfachpersonen angewiesen, viele steigen bereits nach kurzer Zeit aus dem Beruf aus. Es kann nicht sein, dass wir unsere ausgebildeten Medizinerinnen und Mediziner verheizen, sondern es ist jetzt allerhöchste Zeit für einen systemischen Wandel. Hierfür müssen wir gemeinsam generationsübergreifend am gleichen Strang ziehen, um Arbeitsbedingungen zu schaffen, in welchem alle Ärzte und Ärztinnen ihrem Beruf (wieder) in Gesundheit und Freude nachgehen können.

Laut Bundesrat belaufen sich die Kosten für das sechsjährige Medizinstudium auf rund 650’000 Franken pro Studienplatz. Nun gibt es erste Forderungen aus der Politik, die von den ärztlichen Berufsabgängerinnen und -abgängern verlangen, zumindest einen Teil des durch den Steuerzahler finanzierten Studiums dem Staat zurückzuzahlen. Was meinen Sie dazu?

Bevor diese Forderung in Betracht gezogen werden kann, möchte ich die Universitäten dazu auffordern, die Kosten des Medizinstudiums ­detailliert und vollständig aufzuzeigen. Meines Erachtens ist diese Kostentransparenz notwendig, um herauszufinden, wie die Studienplätze kosteneffizient erhöht werden können. Ich halte es für wenig zielführend, die ärztlichen Berufsabgängerinnen und -abgänger zur Kasse zu bitten. Dies könnte dazu führen, dass nur noch Personen Medizin studieren, welche es sich bei einem Abbruch oder Ausstieg allenfalls leisten könnten, dem Beruf den Rücken zu kehren ohne grosse finanzielle Rückschläge.

Trotz der eindeutigen Resultate Ihrer Umfrage ist das Interesse am Medizinstudium unver­ändert hoch. Im Jahr 2020 haben sich rund 5700 Personen um einen Studienplatz beworben, was die Zahl der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze bei weitem überschreitet. Wie erklären Sie sich diesen «Widerspruch»?

Ich sehe keinen Widerspruch. Das Medizin­studium ist ein äusserst interessantes Studium, in welchem man sich intensiv mit vielen Aspekten des Menschseins in Gesundheit und Krankheit auseinandersetzt. Der Beruf des Arztes oder der Ärztin kann äusserst erfüllend und sinnstiftend sein, so dass das hohe Interesse am Studium absolut nachvollziehbar ist. Mit Sicherheit bestätigen lässt sich meine Vermutung nicht, aber ich denke, dass die intensive Auseinandersetzung mit der Arbeitsrealität als Assistenzarzt und -ärztin erst gegen Ende des Studiums und ins­besondere im Wahlstudienjahr stattfindet. Und seien wir einmal ehrlich: Im Alter von 18 oder 19 Jahren, wenn sich jemand für ein Studium entscheidet, hat sich wohl kaum jemand mit
der Frage auseinandergesetzt, wie das Leben in der Arbeitswelt im Alter von 30–35 aussieht, so dass es meines Erachtens nachvollziehbar ist, dass die Ausstiegsgedanken erst später auf­treten.

Die Schweiz ist stark auf den eigenen ärzt­lichen Nachwuchs angewiesen, tut sich aber mit der Nachwuchsförderung schwer. Was müsste man besser machen bei der Aus­bildung? Braucht es Ihrer Meinung nach den Numerus clausus in der Medizin heute noch?

Die Schweiz bildet schlichtweg zu wenig eigene Ärzte und Ärztinnen aus, um den Nachwuchs zu decken, obwohl seit mehr als 20 Jahren der Ärzteverband eine Erhöhung der Studienplätze fordert. Solange diese Plätze beschränkt sind, braucht es eine Zulassungsbeschränkung mittels Eignungstest oder Concours. Aber alleine nur die Studienplätze zu erhöhen, reicht nicht aus. Gleichzeitig muss man sich darauf fokussieren, die bereits ausgebildeten Ärzte und Ärztinnen im Beruf zu halten, mittels Verbesserung der Bedingungen.

Für die grosse Mehrheit der Studierenden kommt es nicht infrage, nach der Facharzt­ausbildung Vollzeit zu arbeiten. Nur 28 Prozent der Studierenden möchten nach Abschluss der Ausbildung eine 100-Prozent-Stelle. Eine Mehrheit will ihren Beruf nur in Teilzeit ausüben. Muss sich die (Zivil-)Gesellschaft – vorab die Patientinnen und Patienten – auf ein neues ärztliches Berufsverständnis einstellen? Muss sie das Berufsbild des Arztes «neu» denken?

Das Gesundheitswesen steht unter Druck und befindet sich im Wandel der Zeit. Neue Berufsgruppen wie z. B. Nurse Practitioners finden den Weg in die Schweizer Spitallandschaft. In der Europäischen Union ist vermehrt die Rede von Gesundheitsdatenräumen und der Ruf nach Teilzeitarbeit ist gross. Diese Veränderungen bringen neue Herausforderungen mit sich, welche mit Sicherheit auch das Berufsbild des Arztes und der Ärztin verändern werden. Inwiefern sich dieses Bild verändern wird, kann ich nicht voraussagen. Fest steht aber, dass die angehende Generation von Ärzten und Ärztinnen interessiert ist an einer sinnstiftenden und patienten­orientierten Medizin. Ich appelliere an uns alle, offen für die nötigen Veränderungen zu sein, um die ­Herausforderungen im Gesundheitswesen gemeinsam anzupacken.

Valeria Scheiwiller 

Präsidentin der swimsa (Swiss Medical Students Association) und studiert im 6. Studienjahr an der Universität Lugano. Vor dem Studium absolvierte sie ein halbjähriges Pflegepraktikum, 2018 begann sie ihr Medizinstudium an der Universität Zürich. Seit dem ersten Studienjahr ist sie ein aktives Mitglied der swimsa.

Auf internationaler Ebene nahm sie im Mai 2023 am World Health Assembly der WHO als Jugenddelegierte für die Schweiz teil und war als Chairperson der IFMSA (International Federation of Medical Students Associations) tätig.