«Dafür hast du keine Zeit»

Silvan H., der im realen Leben anders heisst, ist Assistenzarzt in einem Basler Spital. Die ersten Jahre seines Berufslebens brachten ihn an die Grenzen der Belastbarkeit. Doch sein Durchhaltewille hat sich gelohnt.

Synapse: Sie haben Ihre erste Assistenzarztstelle nach einem Monat wieder gekündigt. Weshalb?

Silvan H.: Ich sah keinen Sinn in der Arbeit, es war kein Ende in Sicht und meine körperlichen und psychischen Energiereserven reduzierten sich auf ein Minimum. Es wurde mir erst im ­Rahmen der ersten Stelle bewusst, wie starr (und veraltet) die Arbeitsbedingungen der Ärzte sind und wie die im Studium propagierte «patientenzentrierte» Arbeit keineswegs der Wahrheit entsprach. Bestenfalls behandelte man eine Diagnose, aber nie den ganzen Menschen. Wollte ich auf die Psyche des Menschen eingehen, der vor mir stand (oder besser gesagt lag), hiess es von oben: «dafür hast du keine Zeit», was leider auch so war. Schenkte ich jedem ­Patienten zusätzlich 5 Minuten Aufmerksamkeit, zog sich mein Tag in die Ewigkeit aufgrund der noch ausstehenden administrativen Arbeit, die in meinen Augen zurzeit das Hauptelement der ärzt­lichen Arbeit darstellt.

Sie haben im Sommer letzten Jahres Ihre zweite Assistenzarztstelle angetreten. Wie geht es Ihnen heute? Werden Sie an dieser Stelle bleiben?

Definitiv! Eine wahrhaftige 50-Stunden-Woche im Vergleich zu einer effektiven 70-Stunden-Woche macht bereits sehr viel aus. Zudem schätze ich den freundlichen, zielorientierten Umgang sowie die positive Fehlerkultur extrem und verzeichne viel mehr persönliche Fortschritte. Es gefällt mir, mit dem ganzheitlichen Menschen (Psyche und Somatik) zu arbeiten und die Priorität nicht auf eine abrechnungs­optimierte Diagnoseliste setzen zu müssen, sondern auch soziale, nicht abrechnungsrelevante Faktoren miteinbeziehen zu können. Zudem ­findet bei dieser Stelle viel mehr interdisziplinärer Austausch statt und nicht das klassische «Herunterdelegieren und Herunterschauen» der Ärzte auf die Pflege.

Welche Lehren ziehen Sie aus diesen beiden Erfahrungen?

Ich habe gelernt, für mich selbst einzustehen und nicht einfach mitzuschwimmen, wie der Grossteil es tut.

Denn sonst bleiben die rückständigen, in­effizienten Arbeitsprozesse und -bedingungen weiterhin bestehen, während sich andere Berufsgruppen weiterentwickeln und ­unsere Arbeit immer mehr durch fachfremdes Personal dirigiert wird.

Wie viele Stunden beträgt Ihre offizielle, vertraglich vereinbarte Arbeitszeit und wie lange arbeiten Sie wirklich?

Bei der ersten Stelle hatte ich einen 50-Stunden-Vertrag inkl. 4 Stunden Weiterbildung, wovon ich jedoch nur rund 1,5 Stunden in Anspruch nehmen konnte aufgrund der Visiten und ­Rapporte. Zusätzlich arbeitete ich ca. 65–70 Stunden pro Woche exkl. Home-Office. Dienste hatte man damals ca. 4 pro Monat, welche 12–16 Stunden andauerten. Überzeit wurde hauptsächlich mit Hintergrunddiensten kompensiert. Bei der jetzigen Stelle arbeite ich effektiv 50 Stunden pro Woche und kann im Schnitt 2,5 Stunden Weiterbildung pro Woche be­suchen, was aber immer noch unter den 4 Stunden pro Woche liegt. Überzeit kann hier nicht kompensiert werden, was einen Anreiz schafft, erst gar keine aufzubauen.

Weshalb, glauben Sie, hat der Anteil admini­strativer Arbeit und Bürokratie im Berufsalltag eines Arztes oder einer Ärztin in den letzten Jahren derart zugenommen?

Da sind einerseits die Vorgaben der Kranken­kassen, welche stetig ansteigen, in massiven Verwaltungskosten enden und grösstenteils ­völlig sinnlos sind. Damit meine ich zum Beispiel das Verfassen von Kostengutsprachen-­Anträgen zur Rechtfertigung der Behandlung langjähriger chronischer Erkrankungen, welche mehrwöchige bis mehrmonatige Aufenthalte benötigen. Diese redundanten Anträge liessen sich mit (mehr) medizinischem Fachwissen seitens der Krankenkassen sicherlich wegsparen. Anderseits wird von uns stets das Erstellen von neuen Patientendokumenten gefordert, und zwar auf der Basis der vielen, praktisch ausnahmslos inkompatiblen Klinikinformations­systeme der Spitäler und Praxen. Dem wäre mit kompatiblen Systemen oder einer digitalen Gesamt-KG entgegenzuwirken. Diese Aufgabe könnte und wird in gewissen Spitälern vom ­Sekretariat übernommen, was von Kollegen bereits als grosse Entlastung beschrieben wurde. Dazu kommen codierungs- und nichtbehandlungsrelevante Arztberichte, die kaum effizient und zielführend verfasst werden (sollen). Von der berufsgruppenübergreifenden «Dokumen­tationsflut» ganz zu schweigen

Wie viel Zeit bleibt Ihnen für Ihr Privatleben und Ihre sozialen Kontakte?

Bei der ersten Stelle war ich von morgens bis abends (um 21/22 Uhr) im Spital, sodass weder für soziale Kontakte noch für die eigene Gesundheit noch für die Administration ausserhalb des ­Berufs Zeit übrig war und sich alles auf das ­Wochenende verschob. Die jetzige Stelle ­ermöglicht mir, auch unter der Woche meine Freizeit hin und wieder mit sozialen Kontakten, Sport, Musik oder Organisatorischem zu füllen, sodass ich an den dienstfreien Wochenenden meine Zeit definitiv mehr geniessen kann.

Haben diese ersten Erfahrungen Ihr Berufsbild als Arzt verändert – oder bestätigt?

Total verändert, leider auf eine negative Art. Ich erlebe, wie ich als Arzt immer mehr zum patientenfernen Sachbearbeiter werde, der sich für jegliche Leistung gegenüber der Krankenkasse rechtfertigen muss, während die Krankenkassen sich kaum für die Redundanzen und Fehler rechtfertigen müssen, welche sie im klinischen Alltag kreieren. Zudem halten Ärzte in meinen Augen nur wenig zusammen. In den Medien und der Politik wird gegen Ärzte gewettert und gleichzeitig bekämpfen sich die Ärzte noch gegen­seitig.

An den meisten Orten herrscht weiterhin Hier­archie mit harschen Umgangsformen, lausigem Teaching und absolut negativer Fehlerkultur.

Dinge, die ich zuletzt im Militär erlebt habe, mit der Begründung «Ist so, weil ist so». Das Resultat ist eine Spaltung der Ärzteschaft und ein Kämpfen gegeneinander anstelle einer Lösungssuche miteinander – so wie das zum Beispiel der VSAO macht, der sich für Arbeitszeiten und -bedingungen einsetzt, die der heutigen Wirtschaftslage angepasst sind. Stattdessen «predigen» alt erfahrene «Ikonen» der Chirurgie eine 80-Stunden-Woche, ohne jegliches Verständnis und ohne überhaupt einen Bruchteil der administrativen Tätigkeiten der jungen Kollegen zu erbringen, was bei Letzteren jedoch 95% des ­klinischen Alltags ausmacht.

Wo orten Sie die grössten «Baustellen» im Schweizer Gesundheitswesen?

An erster Stelle sehe ich einen «Prozessopti­mierungswahn», der zu immer mehr Mitarbeitern in der Verwaltung und gleichzeitig zu immer weniger Mitarbeitern mit direktem Patientenkontakt (Pflege, Ärzte, Physiotherapeuten, So­zialdienst, Ergotherapie sowie weitere Dienste) führt, was wiederum dazu führt, dass die effektiven Dienstleister, die Leistungen am Patienten erbringen, weggespart werden. Eine zweite ­Baustelle betrifft das Festlegen der Behandlungsrahmen und -ziele, die aktuell nicht durch die ärztlichen Fachpersonen erfolgen, sondern durch die Krankenkassen, die meist ohne Sachverständnis auf das Einsparen von Geld anstatt auf die nachhaltige Behandlung der Patienten fokussiert sind. Dazu kommen Fehlanreize: Ein Operateur verdient, wenn er operiert. Verhindert er erfolgreich eine Operation durch kritisches Hinterfragen der OP-Indikation, verdient er nichts, was den Anreiz, unnötige OPs zu ­verhindern, natürlich senkt.

Ausserdem haben wir eine vergleichsweise schwache Ärztelobby, die neben den mächtigen Kranken­kassen-, Tabak-, Alkohol-, Zucker- und Pharma­lobbys keine Chance hat.

Im Prinzip ist unser Gesundheitswesen ein «Krankheitswesen», das oft zu spät eingreift. Der Fokus der Krankenkassen und Kranken­häuser liegt auf dem kranken und nicht auf dem gesunden Menschen, denn ein gesunder Mensch lohnt sich aus ökonomischer Perspektive nicht. Gesundheitsförderung und -prävention kommen in meinen Augen weiterhin zu kurz. Dies widerspiegelt sich bereits wunderbar in der Berufsgruppe der Ärzte – maximal ein Viertel aller Ärzte leben physisch und psychisch gesund und können die Dinge umsetzen, die sie ihren Patienten mitgeben.

Müsste das Medizinstudium neu strukturiert und aufgebaut werden?

Auf jeden Fall. Weg vom Frontalunterricht und der isolierten Theorie sämtlicher Krankheits­bilder hin zu fallbasiertem Teaching und (Kennen-)Lernen der Erkrankungen im Rahmen ebendieser Fallbesprechungen. Auch die Ad­ministration sollte bereits früher im Studium ­implementiert werden, um auf die Zeit als ­Assistenzarzt (= Sachbearbeiter) vorzubereiten, um kein idealisiertes, sondern ein realistisches Weltbild zu kreieren.

Halten Sie den Numerus clausus beim Medizinstudium noch für zeitgemäss?

Nicht wirklich. Die Voraussetzung, vor Studienbeginn ein Praktikum im Gesundheitswesen zu absolvieren, und eine Selektion der Studierenden durch die Prüfungen (wie vor 30 Jahren bspw.) würden meiner Meinung nach mehr am Fach interessierte Studenten mit sich bringen. Natürlich vorausgesetzt, die Prüfungen ­beinhalten kein (unnützes) alltagsfremdes ­Spezialwissen wie bisher, sondern prüfen jeweils Grundverständnis der Basics und fördern ein korrektes Verhalten gegenüber den Patienten.

Zum Schluss: Wenn Sie einen Wunsch an die neue Gesundheitsministerin, Frau Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, frei hätten, welcher wäre das?

Ich würde mir wünschen, dass ein Dialog (ohne Schuldzuweisungen) zwischen der Bevölkerung und den ärztlichen Fachpersonen zustande käme, in dem Fragen und Bedürfnisse beider Seiten geklärt würden, z. B.: «Weshalb steigen Gesundheitskosten? Welche Rolle spielen dabei Krankenkassen, Ärzte und Politik?» «Welches sind die Erwartungen und Wünsche der Bevölkerung an einen Arzt und inwiefern weichen diese vom tatsächlichen Alltag der Ärzte ab?» «Wie können Gesundheitspersonal und Bevölkerung gemeinsam auf das Ziel der Gesundheitser­haltung und -förderung hinarbeiten?»

Natürlich wäre es auch schön (wenn ich einen zweiten Wunsch frei hätte), zeitgemässe Arbeitsbedingungen und -zeiten einzuführen, ohne dabei die 80-Stunden-Chirurgen zu empören, und gleichzeitig denjenigen Ärzten mehr Möglichkeiten zu bieten, die das Grosswerden ihrer Kinder miterleben wollen oder die ihre Interessen neben der Medizin weiterverfolgen wollen. Dafür setzt sich glücklicherweise der VSAO schon ein, was ich sehr wertschätze.

Bemerkung der Redaktion: Wir haben dieses Interview anonym geführt, um den Assistenzarzt zu schützen, damit ihm in seiner Karriere keine Nachteile erwachsen. Dass dies heute in einer freien und offenen Demokratie wie der Schweiz immer noch nötig ist, deutet auf eine ungenügende Gesprächskultur der medizinischen und gesundheitspolitischen Führungspersonen und auf ein ungesundes Machtgefälle hin, das es langfristig zu überwinden gilt.