Fehlender ärztlicher Nachwuchs? – Persönliche Gedanken eines Chefarztes

Liest man die Presse, so ist man rasch überzeugt, dass in den medizinischen Berufsfeldern schon bald eine unabwendbare Katastrophe droht. Als Verantwortlicher für einen unverzichtbaren Teil der Notfallversorgung der Nordwestschweiz ist es eine meiner Hauptaufgaben, den Betrieb nachhaltig und qualitativ hochstehend sicherzustellen.

Die chronischen Sorgen um diesen Betrieb und meine eigene Zukunft (als Pensionierter und ­Patient) haben mich bewegt, mir ein paar Fragen zu stellen.

1. Frage: Stimmt es überhaupt, dass es um den Nachwuchs schlecht bestellt ist?

Die Chefärztinnen und -ärzte haben auf die Frage, wie gut sie ihre ­Weiterbildungsstellen ­besetzen können, Auskunft gegeben. Dabei zeigte sich, dass 16 von 33 Kliniken Wartelisten führen, 12 gut besetzen können und 5 Kliniken Mühe haben, Weiterbildungsstellen mit adä­quaten Kandidatinnen und Kandidaten besetzen zu können.

Obwohl es sich um eine sehr spezifische Frage in einem speziellen Kontext handelt, gehe ich davon aus, dass wir auch von anderen grösseren und mittleren Spitälern ähnliche Antworten erhalten würden. Etwa 20% der Kliniken dürften Mühe mit der Stellenbesetzung haben. Die Attraktivität von Stellen ist unterschiedlich und hängt von diversen Faktoren ab, wie dem ­zukünftigen Arbeitsalltag, dem erwarteten ­Einkommen, der Vereinbarkeit mit der Familie, psychischen und physischen Ansprüchen und Belastungen, aber nicht zuletzt mit dem Klima am Arbeitsplatz. Da in der Schweiz bisher keine Kliniken oder Abteilungen wegen des Mangels an ärztlichen Mitarbeitenden geschlossen wurden, scheint der Status aktuell auf «ausreichend» zu stehen.

Andererseits ergibt eine Analyse der Stellen­inserate der Schweizer Ärztezeitung, dass Stellen in kleineren Spitälern, psychiatrischen Kliniken und Einzelpraxen schwierig zu besetzen sind. Die eigene Erfahrung in der Notfallmedizin ist, dass Weiterbildungsstellen zwar gut besetzbar sind, wenn das Arbeitsumfeld gesund ist, aber es im Bereich von Fachärztinnen und -ärzten und akademisch Interessierten mit Führungs­potenzial zunehmend schwierig geworden ist. Prognosen des OBSAN zeigen denn auch schon seit Jahren, dass mit einem Fachkräftemangel nicht nur im Pflege-, sondern auch im Arztdienst gerechnet werden muss.

2. Frage: Wie halten wir uns aktuell über Wasser?

Konsultiert man SIWF.ch zu den Facharzt-­Abschlüssen, so findet man diese bemerkenswerte Aussage: «Der Anteil an Ärztinnen und Ärzten mit einem ausländischen Arztdiplom hat sich mit 47 Prozent auf hohem Niveau stabilisiert.» Das heisst, dass seit Jahren jede zweite Fachärztin nicht in der Schweiz ausgebildet wurde. Wir leben also nur noch dank der Immigration auf unserem hohen Niveau, was die ­medizinische Versorgung anbelangt. Insbesondere der Hausarztberuf droht wegen der Altersstruktur und der Abnahme der Arbeitszeit zum Mangelberuf zu werden. Für eine gute Ver­sorgung empfiehlt die OECD einen Hausarzt pro 1000 Einwohner. Nur wenige Gemeinden in der Schweiz erreichen diesen Zielwert. Dagegen gibt es Gegenden, in denen der Grossteil der Gemeinden nur halb so viele Hausärzte hat wie empfohlen. Die Unterschiede in der Verteilung der Hausärzte sind enorm (NZZ 22.2.24). Wir spüren in der Notfallversorgung die Abnahme der Hausarztkapazität direkt und täglich aufgrund der Patientinnen und Patienten, die glaubhaft keinen Termin erhalten, weder in der Akutsituation noch in der Nachsorge. Viele Hausärztinnen und -ärzte scheinen Ihre Arbeitszeit eher reduzieren zu wollen, als weiter aus­zubauen, und der Nachwuchs geht nicht zuletzt in die Praxis, weil die Arbeitszeit eher flexibel und steuerbar scheint.

3. Frage: Was ist der Preis für diese (ungeplante) Strategie?

Der Preis ist zunächst einmal der Preis. Denn ein Besuch beim Hausarzt ist in der Regel günstiger als einer im Spital. «Ein Hausarzt kann viel besser und schneller einschätzen, was sein Patient braucht, als ein Arzt auf der Notfallstation, der nur die Momentaufnahme sieht», meint eine Hausärztin im oben zitierten Artikel. Das stimmt zwar, aber der Wissenschaftlichkeit halber muss gesagt sein, dass die Prävalenz von akut Behandlungspflichtigen im Notfallzentrum fast ­logarithmisch höher ist als in der Hausarztmedizin, was natürlich adäquate Abklärungen nötig macht. Die Abklärung von Thoraxschmerz bei einer Wahrscheinlichkeit einer akuten kardialen Ursache von 30% in Schweizer Notfallzentren dürfte diese Schätzung untermauern. Der Shift vom Hausarzt zum Spital(-Spezialisten) ist hin­gegen drastisch. Versicherungsdaten zeigen, dass zwischen 2014 und 2022 die Kosten für ­Behandlungen bei Grundversorgern um 10% zurückgingen, während die Kosten für ambulante Behandlungen im Spital um 20 Prozent, die Kosten für Behandlungen bei Spezialisten um 40% anstiegen (NZZ 22.2.24).

Der zweite Preis ist die Abhängigkeit von der ­Immigration, die – gerade auf das Beispiel Deutschland appliziert – nicht im gleichen ­Ausmass weitergehen dürfte. Die Löhne haben sich angeglichen, es gibt heute mehr Schweizer Ärztinnen und Ärzte, die sich in Deutschland weiterbilden, weil Morbidität und Fallzahlen ­höher sind und das Verhältnis Lohn zu Arbeitszeit besser. Deshalb hat sich die Arbeitsimmigration auch auf Nicht-EU-Gebiete ausgeweitet.

Der dritte Preis ist die Entstehung von Lücken in der Versorgung, nicht nur in der Hausarztmedizin. In Notfallzentren könnten sich die nächsten Lücken eröffnen, da Schichtarbeit (jede dritte Nacht, jedes zweite Wochenende) immer weniger im Trend liegt, die Arbeit hart (aber ähnlich bezahlt ist wie in Polikliniken) und die Familienkompatibilität nicht immer gegeben ist. Wenn Hausärzte fehlen und Notfallzentren lahmen, dann wird die Medizin nicht besser und schon gar nicht billiger.

4. Frage: Was wäre eine bessere (geplante) Strategie?

Wenn sich der Nachwuchs dafür entscheidet, in einer Gruppenpraxis in der Stadt statt in einer Einzelpraxis auf dem Land zu arbeiten, ist das für Patienten zu akzeptieren – sie müssen flexibler werden. Schwieriger ist, dass die ältere Arzt-Generation nicht eins zu eins durch eine jüngere ersetzt werden kann. Deshalb hat der Staat ­reagiert und v. a. aufgrund der Tatsache, dass ein Sechstel der Hausärztinnen und Hausärzte im Pensionsalter und ein weiteres Drittel über 55 Jahre alt ist, ein Programm gestartet, um mehr Ärztinnen und Ärzte auszubilden. 2021 begannen 1730 junge Menschen in der Schweiz ein Medizin­studium – 50 Prozent mehr als noch 2016.

Aber reicht das? Nach meiner Erfahrung braucht es 10–15 Jahre, um richtig gute Medizin zu betreiben. Die Initiative hat also einen 20-jährigen Zeitzünder und wird Ende der dreissiger Jahre ­einen Effekt, aber einen zu kleinen haben, weil die Schweiz dann 10 Millionen Einwohner und über 2 Millionen Rentner haben dürfte.

Wo ist die Luft im System? Meiner Ansicht nach im deutlich zu grosszügig aufgestellten statio­nären Gesundheitssystem. In meinem Sabbatical in Dänemark habe ich die Folgen der Halbierung der Anzahl Spitäler in wenigen Jahren gesehen. Es gibt tatsächlich wieder genügend Pflegende! Nächstes Jahr werden die 6 Millionen Däninnen und Dänen noch 21 Notfallzentren zur Ver­fügung haben, das wäre für die Schweiz hochgerechnet 31 statt 161 (bag.admin.ch, Kenn­zahlen der Schweizer Spitäler, Anzahl akut-somatischer Einrichtungen 2019). Natürlich kämpfen wir in den grossen Spitälern jeden Tag um das letzte verfügbare Bett. Aber grundsätzlich wären die Ressourcen ärztlich und pflegerisch in der Schweiz für die Anzahl Patienten vorhanden, wenn sie nicht breitestens verteilt wären und die Aufnahmekapazität nicht überall vorgehalten werden müsste. Wir jagen uns gegenseitig die Mitarbeitenden ab, statt uns auf wenige grössere Zentren zu fokussieren. Es gibt alleine 16 Herzchirurgie-Zentren – in St. Gallen dürfte in Kürze das 17. eröffnen. Woher kommt das Personal? Natürlich von anderen Zentren oder von auswärts. Kleinere Einheiten benötigen mehr Personal als grössere – aufgrund der deutlich grösseren Schwankungen und der Vorhalteleistungen. Bad Krotzingen mit 5 Herzchirurgie-OP-Sälen und fast 5000 Eingriffen dürfte einiges effizienter sein als eine Klinik in Meyrin mit 53 Eingriffen (welches-spital.ch).

Gibt es Hoffnung? Die Schweiz ist ein Land der Basisdemokratie. Wir haben fast so viele ­Gesundheitsexpertinnen und -experten wie Deutschland Fussballexpertinnen und -experten. Ich gehe deshalb davon aus, dass dieses ­geballte Expertentum eine Volksinitiative starten wird, um Gesundheitsregionen in der Verfassung zu verankern, die mindestens eine Million Einwohner umfassen (natürlich mit geogra­fischen und sprachlichen Ausnahmegebieten) und die sich um eine gemeinsame (stationäre) Gesundheitsplanung bemühen müssen. Dazu ein elektronisches Patientendossier, das nicht freiwillig und mit Ausnahmen gespickt ist, sondern so brauchbar wie das dänische, wo ich im Notfallzentrum vollständige Dossiers von Patienten studieren durfte, deren Ambulanz noch nicht einmal eingeparkt hatte.

Prof. Dr. Roland Bingisser

Chefarzt Notfall am USB