Mangel an Ärztinnen und Ärzten

Die Schweiz bildet seit Jahrzehnten zu wenige Ärzte und Ärztinnen aus – in den letzten zehn Jahren kamen 72% unserer neuen Ärzte und Ärztinnen aus dem Ausland. Bisher hat man darauf spekuliert, dass die im Verhältnis zum Ausland, insbesondere im Vergleich zu den Nachbarländern (D, F, I), immer noch besseren Arbeitsverhältnisse weiteren Zustrom an Ärztinnen und Ärzten generieren. Diese Rechnung ist bis jetzt aufgegangen. Aktives Abwerben von Ärztinnen und Ärzten wäre hingegen für die Schweiz nicht zulässig, da sie den entsprechenden Verhaltenskodex («Globaler Verhaltenskodex für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften» WHO 2010) unterschrieben und ratifiziert hat. Erkennen die Nachbarländer aber diese Dynamik und leiten entsprechende Massnahmen ein oder verlieren die Arbeitsinhalte und -bedingungen für Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz weiter deutlich an Attraktivität, stehen wir schnell vor einer relevanten Verschärfung einer bereits bestehenden Problematik. Denn gerade bei der Betreuung von Patientinnen und Patienten sind Sprach- und Kulturkenntnisse von relevanter Bedeutung, besonders in den Bereichen Grundversorgung und Psychiatrie. Die demografische Entwicklung, d. h. die zunehmende Alterung der Bevölkerung, wird die Nachfrage deutlich steigen lassen. Hier fällt erschwerend ins Gewicht, dass eine grosse Anzahl von praktizierenden Kolleginnen und Kollegen in den nächsten Jahren das Pensionierungsalter erreicht. Die durch Staat und Versicherer verantwortete Bürokratisierung ohne Zusatznutzen, die eher zu einer Qualitätsabnahme denn -steigerung führt und zudem die Gesundheitskosten erhöht und Ineffizienzen schafft, führt zu einer weiteren Beschleunigung der Pensionierungswelle.

Teaching session (Simultanübersetzung Englisch -> Rumänisch = Landessprache).

Entwicklung Anteile in- und ausländischer Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz 

Aufgrund der demografischen Entwicklung steht das Gesundheitswesen landesintern aber auch in Konkurrenz zu allen anderen Branchen. Es mangelt auf allen Ebenen, von Berufen mit Berufslehre bis zur Hochschulqualifikation, an quali­fizierten Auszubildenden oder Berufsleuten. Für die Arztpraxen ist der aktuell ebenfalls be­stehende Mangel an Medizinischen Praxisassistentinnen EFZ ein Thema. Eine Grundversorgerpraxis ist ohne MPA EFZ nicht wirtschaftlich führbar. Auch hier trifft die Gesundheitspolitik durch die Verzögerung von TARDOC eine Mitschuld.

Überhaupt ist festzuhalten, dass die Gesundheitspolitik nicht nur im Tabakbereich, wie ­notabene vom Bundesamt für Justiz wie auch von Kommissionen des EDI festgestellt wurde, sondern auch bezüglich der Verfassungsbestimmungen zur Hausarztmedizin die Verfassung nicht umsetzt. Ein ebenso grandioses Scheitern bei der Pflegeinitiative ist absehbar. Dabei wäre es gar nicht so kompliziert. Es wäre mit etwas gesundem Menschenverstand und adäquatem Einbezug von den Berufsverbänden der Personen machbar, die tagtäglich an der Front Patientinnen und Patienten betreuen. Stattdessen wird der Nikotin- und Tabakkonsum liberalisiert und das Gesundheitswesen in einem Wust unsinniger Bürokratie überreguliert: Beides zusammen löst Gesundheitskosten in Milliardenhöhe aus, verantwortet durch die nationale Gesundheitspolitik.

Warum diese Bemerkungen in einem Artikel zum Ärztemangel?

Die Bürokratie und Überregulierung, die fehlenden Ressourcen für zeitgemässe Informatik­systeme, machen die Arbeit im Gesundheits­wesen unattraktiv. So gibt es Hinweise, dass zunehmend mehr Medizinstudentinnen und -studenten, nachdem sie den Spitalalltag ­während des Studiums kennengelernt haben, sich eine zukünftige Tätigkeit im Gesundheitswesen nicht mehr vorstellen können. Die Dis­krepanz zwischen dem idealen Soll, das an den Fakul­täten gelehrt wird, und dem, was sie vorfinden, hat in den letzten Jahren zugenommen. Eine Umfrage der SWIMSA zum Thema wird in dieser Ausgabe besprochen. Bezüglich IT-Infrastruktur sprechen Umfragen des VSAO Bände. Ob zudem dann noch der Nu­merus ­clausus, wohl in Ermangelung besserer Alter­nativen, die ideale Selektionsmethode ist, wird in dieser ­Ausgabe ebenfalls thematisiert.

Ein Drittel der Medizinstudierenden denkt an eine Tätigkeit ausserhalb der Gesundheits­versorgung. Bei den verbleibenden zwei Dritteln hat die Abbruchrate während der Weiter­bildungsphase respektive das Verlassen der Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren um einen Faktor 3 zugenommen. Durch weitere ­gesundheitspolitisch motivierte, administrative Eingriffe wird die Grundversorgung zunehmend unattraktiv. Je schwächer die Hausarztmedizin, desto teurer wird die medizinische Versorgung. Die Fördermassnahmen, die ländliche Gemeinden und Kantone unternehmen, um die Grundversorgung sicherzustellen, werden in erster ­Linie durch die Krankenversicherer sowie die ­nationale und kantonale Gesundheitspolitik selbst torpediert. Der Mangel, der heute im ­Bereich der Grundversorgung und der psychiatrischen Versorgung schon manifest ist, wird sich in den nächsten Jahren wohl zusätzlich auf weitere Fachgebiete ausdehnen. Die vom Bund verordnete Zulassungssteuerung wird deshalb neben dem immensen bürokratischen Aufwand und den Kosten, die sie verursacht, wohl eher zu einer Zulassungsstörung und in der Folge zu einer Versorgungsstörung denn zu relevanten Kosteneinsparungen führen. Es empfiehlt sich deshalb eine kantonale Umsetzung mit Augenmass und zwingend unter Partizipation der ­kantonalen Ärztegesellschaften.

Eine Steigerung der Ausbildungsplätze von ­Medizinstudierenden, Pflegenden, Medizinischen Praxisassistentinnen EFZ alleine wird nicht reichen. Die Ausbildungsoffensive wird ver­puffen, wenn alle neu Ausgebildeten nach zwei bis drei Jahren beruflicher Tätigkeit dem Gesundheitswesen den Rücken kehren. In erster ­Linie müssen die Arbeitsbedingungen und ­-inhalte dringend und zeitnah angepasst ­werden, damit die Fachkräfte längerfristig im Beruf verbleiben. Es ist äusserst ineffizient, den Wasserspiegel in einem lecken Gefäss halten
zu wollen, indem man oben mehr Wasser reinschüttet bei schon vorbestehender genereller Wasserknappheit. Es wäre effizienter, das Gefäss zu reparieren.

Der Mangel an Grundversorgerpraxen und an Medizinischen Praxisassistentinnen EFZ verstärkt sich über den Mangel an Ausbildungs­plätzen gegenseitig negativ.

Es geht nicht mehr an, den im Gesundheits­wesen am Patienten Tätigen Ineffizienz und Kosten vorzuwerfen. Vielmehr geht es darum, die durch Bürokratie und qualitativ ungenügende IT-Infrastruktur geschaffene Ineffizienz und die dadurch resultierende Demotivierung ­aller im Gesundheitswesen mit Patientinnen und Patienten ­Arbeitenden zu reduzieren. Eine gute IT-Infrastruktur kann durch das Gesundheits­wesen wegen seit Jahren schon nicht mehr kosten­deckender Tarife, insbesondere im am­bulanten Bereich, nicht mehr selbst finanziert werden. Die Spitäler, welche aus finanziellen Gründen die Arbeitsbedingungen für das medizinische Per­sonal am deutlichsten verschlechtern, werden als Erste kein Personal mehr finden.

Die Ressourcen fliessen an den falschen Ort, wofür ein Teil der Versicherer und die Gesundheitspolitik in der Verantwortung stehen. Ein namhafter Volkswirtschaftler (Binswanger) führte Ende Januar 2024 in der Sonntagspresse aus, dass die Lohnsumme in einem referen­zierten Zeitraum an einem Schweizer Univer­sitätsspital im Pflegebereich um ca. 20%, bei
der Ärzteschaft um ca. 60% und im Bereich ­Administration um ca. 270% gestiegen ist. Die Gesundheitspolitik stellt somit Papier und Kon­trolle, aber nicht den Patienten ins Zentrum. Dies führt dazu, dass Berufstätige mit patientennaher Tätigkeit, durch sinnloses Mikromanagement und den «Bürokratiewahn» (Begriff des Volkswirtschaftlers) demotiviert, in Scharen das Gesundheitswesen verlassen. Die Hauptverantwortung mit der Kostenbremse-Initiative wird ab Juni 2024 im Falle einer Annahme eine poli­tische Partei tragen. Wer in Zukunft nicht mehr die notwendige pflegerische oder ärztliche Betreuung finden wird, den werden wir gern zwecks Organisation der Betreuung an die betreffende Parteizentrale verweisen.

Die Ärzteschaft ist zum Dialog bereit und ist sich auch der Ressourcenlage bewusst. Durch Dialogverweigerung anderer Partner, gepaart mit deren mangelnder Fachkenntnis, ohne arrogant sein zu wollen, ist es schwierig, konstruktive ­Lösungen zu finden. Die Leidtragenden werden am Schluss alle Patientinnen und Patienten sein.

Die rasch zunehmende, sich verschärfende Mangellage an Medikamenten, Impfstoffen, Medizinalprodukten und last, but not least an Berufstätigen im Gesundheitswesen (Pflege, Ärztinnen, Ärzte, MPA EFZ …) ist das aktuelle Hauptproblem in Anbetracht der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Die Kosten steigen, seit Jahren langsam stetig, aber nicht relevant. Die Gesundheitsversorgung mit der heute gewohnten Qualität und dem guten Zugang wird kollabieren. Dies ist hingegen sehr relevant.

Ein wesentlicher Teil der wirtschaftlichen Re­zession in Deutschland, wie eine Studie kürzlich zeigte, ist darauf zurückzuführen, dass die krankheitsbedingten Arbeitsausfälle massiv zugenommen haben, da die Gesundheitsver­sorgung kaputtgespart wurde und wird. Die ­aktuelle Schweizer Gesundheitspolitik ist auf dem Weg in dieselbe Richtung, mit ein paar ­Jahren Latenz.

Es gibt folglich nicht nur medizinisch, sondern auch volkswirtschaftlich gute Gründe, die Probleme anzugehen, unter rechtzeitiger und aktiver Partizipation praktisch medizinisch erfahrener Berufsleute.

Dr. med. Carlos Quinto

Mitglied der Redaktion Synapse