«Ich glaube, dass sich die Kommunikation, die Fehlerkultur und die Teamarbeit durch gemischte Teams verbessern»

Interview mit Prof. Dr. med. et phil. Maria Wertli

Prof. Dr. med. Maria Wertli: Mich stört der Begriff «Feminisierung in der Medizin». Viele Bereiche in der medizinischen Versorgung wurden seit Jahrhunderten durch Frauen geleistet. Der Begriff der Feminisierung umschreibt letztlich, dass das Prestige – und damit direkt abhängig auch die Entlöhnung – der ärztlichen ­Arbeit abnimmt und dies stattfindet, weil mehr Frauen als Ärztinnen in vielen Fachbereichen arbeiten. Das ist ein Phänomen, das auch in anderen Bereichen beobachtet werden kann, z. B. im Schulwesen. Schauen wir uns die Leitungs­ebenen der Spitäler an, dann sind Frauen in den meisten Bereichen weiter deutlich untervertreten.

Schon während meines Studiums waren die Frauen mit über 50 % vertreten. Im Berufsleben wurde ich als Assistenzärztin aber noch regelmässig v. a. von älteren Patienten diskriminiert. So beklagten sich gewisse Patientinnen und Patienten trotz meiner regelmässigen Visiten dar­über, dass sie noch nie einen Arzt ge­sehen hätten. Diese Erlebnisse sind heute weniger häufig und werden wahrscheinlich mit der Zeit verschwinden. Auf der Leitungsebenen gab es dannzumal nur vereinzelt Ärztinnen in Kaderpositionen. Rollenmodelle und Förderung waren noch wenig verbreitet. Karriereoptionen wurden wenig thematisiert. Heute ist es für junge Ärztinnen und Ärzte viel selbstverständlicher, Beruf und Privates zu ­koordinieren und Rechte einzufordern. Bei meinem Berufseinstieg gab es zu wenig Weiterbildungsstellen, kein Arbeitsgesetz und wir mussten uns einordnen, um eine Chance für eine Karriere zu ­haben. Die Möglichkeiten sind heute viel breiter. Die Hausarztmedizin und die Allgemeine Innere Medizin sind wieder Trendgebiete, da sie sehr viele Karrierechancen und Möglichkeiten bieten. Im ­Departement Innere Medizin des Kantonsspitals Baden arbeiten viele Leitende- und Oberärztinnen und -ärzte in einem Teilzeitpensum. Das war zu meiner Zeit als Assistenzärztin eher un­gewöhnlich und hat häufig auch das ­Karriereende bedeutet.

Es ist schwierig zu sagen, warum heute Frauen in Leitungspositionen weiterhin untervertreten sind. Es gibt Fachbereiche, in denen der Frauenanteil auf Stufe ­Assistenzärztinnen und -ärzte bei rund 70 % liegt, im oberen Kader aber vorwiegend Männer arbeiten. Es ist umgekehrt selten, dass die Kaderärztinnen und -ärzte v. a. Frauen sind, mit vorwiegend männlichen Assistenzärzten. Der Anteil an Professorinnen an den Universitäten ist trotz Förderprogrammen immer noch äusserst bescheiden. Da gibt es auf jeden Fall Nachholbedarf. Ich habe den Eindruck, dass während der Assistenzzeit Frauen und Männer gleiche Chancen und Möglichkeiten haben. Es gibt wahrscheinlich mehrere Faktoren, warum sich nachher die Schere zu öffnen beginnt. Frauen trauen sich häufig auch eine Leitungsposition nicht zu oder übernehmen mehr Verantwortung in der Familie. Es war auch für mich überhaupt nicht klar, dass ich einmal Chefärztin werden würde. Ich bin erst durch viele Jahre in anspruchsvollen Jobs zur Einsicht gekommen, dass ich das kann und auch möchte.

Ich glaube, dass sich die Kommunikation, die Fehlerkultur und die Teamarbeit durch gemischte Teams verbessern. Aus meiner Sicht kommt es auf die gute ­Mischung an. Mich spricht daher der ­Begriff Diversität mehr an. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass ein Ungleichgewicht (Alter, Geschlecht und ­weitere Faktoren) sich ungünstig auf die Kultur auswirkt.
Sie sind heute Chefärztin und Direktorin des Departements Innere Medizin am Kantonsspital Baden und gehören damit der eher seltenen Spezies von Frauen in Führungspositionen an.

Ich wurde im KSB sehr offen empfangen und fühlte mich sofort sehr wohl. Wir ­haben vergleichsweise einen hohen Anteil an Frauen in Führungspositionen. Positive Rückmeldungen, dass es schön ist, eine Frau an der Spitze dieses grossen Departements zu sehen, haben mich sehr gefreut.

Heute haben junge Frauen so viele Möglichkeiten, dass es manchmal schwierig sein kann, sich festlegen zu müssen. Ich rate allen, sich mit den Entscheidungen Zeit zu nehmen und neugierig zu sein. Viele einmalige Gelegenheiten ergeben sich auf dem Weg. Wenn wir zu stark verplant sind, verpassen wir solche Chancen möglicherweise. Sich aktiv Vorbilder und Mentoren zu suchen, kann wichtige Impulse geben.

In der Karriereförderung und der Forschung. Leider schlagen immer noch ­wenige Frauen eine akademische Kar­riere ein. Ich empfinde die Kombination aus klinischer Forschung und täglicher klinischer Arbeit als äusserst bereichernd und wertvoll. Ich kann dies nur empfehlen.

Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, es gibt typische Genderaspekte, aber auch strukturelle Probleme. Ich beobachte mit Bedauern, dass bei einer Geburt des ersten Kindes meist die Frau das Pensum stark reduziert und sich in erster Linie um die Familie kümmert. Teilzeitarbeit nimmt zu, aber ein zu tiefes Arbeitspensum führt unweigerlich dazu, dass die Kolleginnen weniger präsent sind und damit auch schlechtere Karrierechancen haben.

Wie erwähnt bin ich eher unglücklich mit der Bezeichnung «Feminisierung in der Medizin», da sie m.E. negativ konnotiert ist. Ich bin der Meinung, dass es gemischte Teams braucht und eine gute ­Balance hilfreich für eine gute Arbeits­atmosphäre ist. Die Trends zur interdisziplinären und interprofessionellen Arbeit in gemischten Teams empfinde ich als wertvoll und begrüsse sie.

Prof. Dr. med. et phil. Maria Wertli

Maria Wertli ist Chefärztin und Direktorin des Departements Innere Medizin am Kantonsspital Baden. Ausserdem ist sie Titularprofessorin in der Allgemeinen Inneren Medizin an der Universität Bern und dem Inselspital.

Bernhard Stricker

Redaktor Synapse